Besprechung vom 18.09.2018
Die Wunde Familie
Doppelter Mutterverlust: Donatella Di Pietrantonios Roman "Arminuta"
Es ist kein Erdbeben wie in Donatella Di Pietrantonios älterem Roman "Bella mia", das gleich zu Beginn des dritten Romans der 1963 in den Abruzzen geborenen Schriftstellerin die Verhältnisse ins Wanken geraten lässt. Und dennoch könnten die Erschütterungen, von denen die dreizehnjährige Erzählerin in "Arminuta" heimgesucht wird, heftiger kaum sein.
So abrupt und brutal sie herausgerissen wird aus ihrem bisherigen Leben, so kalt und unwiderruflich wird sie in ihr künftiges gestoßen. Von einem Moment auf den anderen teilen ihr die Eltern mit, dass sie nicht die leiblichen Erzeuger des Mädchens sind und dass dieses fortan bei seiner wirklichen Familie wohnen muss. Kein Widerstand, kein Flehen hilft.
Von einem idyllischen Leben in einem Einfamilienhaus, das unmittelbar an der Strandpromenade gelegen ist, wird das Mädchen in die beengte, ärmliche Wohnung einer Hilfsarbeiterfamilie gebracht. Von einer nicht weiter spezifizierten Stadt führt die unfreiwillige Reise fünfzig Kilometer weiter in das prekäre süditalienische Dorfleben der siebziger Jahre, ohne dass allerdings bei Di Pietrantonio der Umgebung eine ähnlich tragende Rolle zukommen würde, wie etwa jüngst in Wanda Marascos "Am Hügel von Capodimonte" oder gar Neapel in Elena Ferrantes Erfolgssaga.
Eben noch Einzelkind, wird das Mädchen nun mit einem Rudel allabendlich um das wenige Essen kämpfender Geschwister konfrontiert - und es ist der Autorin dabei wohl kaum einfach unterlaufen, dass die genaue Anzahl der Kinder nie ganz klar wird. Ob die Familie das Mädchen zurückgefordert hat, ob die Frau, die es bislang für seine Mutter gehalten hat, derart schwer krank ist, dass sie sich fortan nicht mehr um ihre Tochter kümmern kann, womöglich sogar sterben muss, warum die Fremde, die nun ihre Mutter sein soll, sie einst fortgegeben hat - all das kann das Mädchen sich in schlaflosen oder von Albträumen geplagten Nächten nur ausmalen. Die Erwachsenen schweigen.
Die einen, weil sie das Sprechen nicht gelernt haben und ihren Kindern nur mit der Härte derjenigen begegnen, deren Kraft sich mit der täglichen Mühsal des Überlebens erschöpft hat. Die anderen, so wird im Verlauf des Romans deutlich, weil ihr Egoismus sie stumpf und gefühllos hat werden lassen. Dass das Mädchen namenlos bleibt - von den Dorfbewohnern wird sie nur "Arminuta", die Zurückgekommene, genannt - und dass es selbst einen Brief an die bisherige Mutter nicht unterschreibt, ist die dramatische wie logische Folge der Verstoßung: Ihr wird die Identität entrissen, daraufhin verweigert sie, was von dieser übrig geblieben ist.
Donatella Di Pietrantonio hat diese Sprachlosigkeit in eine schmerzhaft schöne Poesie verwandelt. Lakonisch und harsch und deshalb umso eindringlicher lässt sie ihre Protagonistin von der brutalen, kaum erträglichen Nähe erzählen, die familiäre Bande bedeuten, von den Wunden, die diese Bande schlagen und die nicht heilen, sondern sich allenfalls kaschieren lassen.
Die emotionale Not des Mädchens kondensiert sich in "Arminuta" in einzelnen Szenen. Etwa in jener, als das Kind im Badezimmer kollabiert und nicht weiß, wie es die Frau im Nebenzimmer um Hilfe rufen soll. "Ich habe sie nie gerufen, über Jahre. Seit ich zurückgegeben worden war, steckte mir das Wort Mama im Hals wie eine Kröte, die nicht mehr heraus konnte." Oder in der Episode, als ihre Brüder gescholten werden, weil die Jungen eine Taube in ihr Bett geschmuggelt haben. ",Kleiner Scherz', rechtfertigte sich Sergio, ,die da schreit nachts wegen nichts und wieder nichts und weckt uns damit. Jetzt habe ich sie mal vor Schreck schreien lassen.'" Mitunter sind es nur Momentaufnahmen, die sich ihr mit überdeutlicher Schärfe ins Gedächtnis eingebrannt haben: die Spinne, die über der Tür an ihrem Faden zappelt, "hängend im Leeren", als das Mädchen zum ersten Mal vor der fremden Wohnung steht; die Eingeweide eines gerupften und ausgenommenen Hühnchens, die zwischen dem schmutzigen Frühstücksgeschirr im Spülbecken hängen.
Jenseits aller Rührseligkeit und frei von falscher Romantisierung sind auch hoffnungsstiftende Momente. Die bald innige Verbindung zu Adriana etwa, der gewitzten kleinen Schwester, mit der sich die Zurückgekehrte das Bett teilen muss. Nur das nächtliche Einnässen der Jüngeren verrät, wie hilflos auch sie ist, obgleich sie sich zäh und selbstbewusst gibt. Dass auch dieser Verbindung keine Dauer gestattet ist, genauso wenig wie der aufkeimenden, freilich verbotenen Zuneigung zu Vincenzo, dem ältesten Bruder, bleibt eine traurige Selbstverständlichkeit in Donatella Di Pietrantonios Welt.
Arminuta erzählt die Geschichte ihres doppelten Mutterverlusts aus der Rückschau einer Erwachsenen. Oder auch: Entronnenen. Wo und Wann des Erzählens bleiben ungewiss, ganz so, als wollte sich die Erzählerin davor schützen, ein weiteres Mal eingeholt und verlassen zu werden. Uns Leser wird ihre Geschichte noch eine lange Zeit begleiten.
WIEBKE POROMBKA
Donatella Di Pietrantonio: "Arminuta". Roman.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Verlag Antje Kunstmann, München 2018. 224 S., geb.
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