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Besprechung vom 20.07.2018
Fadenspiele des Lebens
Phantastische Vermischungen: Die Wissenschaftsforscherin Donna Haraway entwirft eine Zukunft, in der die Grenzen zwischen Menschen und anderen Arten durchlässig werden.
Die Gegenwartsdiagnose der amerikanischen Wissenschafts- und Geschlechterforscherin Donna Haraway ist düster: Wir leben in einer Epoche von Umweltverschmutzung, Ausrottung von Tierarten, Klimawandel, sozialer Desintegration, Kriegen und beängstigendem Bevölkerungswachstum, in einer Zeit "voller Geflüchteter, menschlicher und nicht-menschlicher, ohne Zuflucht". Die Historiker der Zukunft könnten unsere Zeit die "Zeit des großen Zauderns" nennen, meint Haraway. Doch wenn wir es jetzt richtig machen, können sie vielleicht auch berichten, dass das Anthropozän eine Übergangszeit zu einer weniger dunklen Epoche war. Mit ihrem Aufruf zu mehr Unruhe will Haraway diesen Übergang befördern.
Ihr neues Buch hat nicht einen roten Faden, es hat ein ganzes Netz davon, denn die Autorin hat sich das Fadenspiel als Strukturmuster genommen. Wie geschickte Spieler aus einem Faden zwischen ihren Fingern komplizierte und gerne auch figürliche Netze entstehen lassen, spinnt Haraway ein Netz aus Geschichte und Gegenwart, Erfahrung und Reflexion: eigener Gedanken und auch jener zahlreicher Mitstreiterinnen aus Wissenschaft und vor allem auch aus "SF" - was zugleich für Science-Fiction, spekulative Fabulation, Spiele mit Fadenfiguren (string figures), spekulativen Feminismus, Science Fact und auch bloß für "so far" stehen könne, also irgendwie für alles.
In diesem Netz findet der Leser immer wieder neue Bilder und Metaphern, die vom Werden und Vergehen, Vernetzen und Umarmen handeln, von Konnektivität und Kooperation, Rücksicht, Sensibilität, Symbiose, Sympoiesis und Symfiktion. Denn um das herrschende Gewinnstreben und die damit einhergehende Ausbeutung, Zerstörung und Vertreibung zu überwinden, müsse das aufgeklärte, autonome, stets "Ich zuerst!" rufende Subjekt sich zurücknehmen in eine vernetzte, Rücksicht übende Welt.
Haraways Motto heißt "Make Kin, Not Babies": Schont die Ressourcen der Erde, macht euch Verwandte, statt Kinder zu zeugen, Verwandte, nicht nur unter den Menschen, sondern unter allem, was da kreucht und fleucht. Denn, so die Autorin: Genau genommen waren wir nie Individuen, die wirklich unabhängig leben können. Wir werden gemeinsam oder gar nicht. Die Verschwisterung mit anderen Lebensformen sei insofern in unserem ureigenen Interesse, "technokratische, geoingenieursmäßige Reparaturfantasien" hingegen lächerlich.
Cthulhu, das Gott-Monster mit dem Tentakel-Kopf aus den Romanen von H.P. Lovecraft, steht dabei Pate und auch wieder nicht: Haraway geht es um die Tentakel, die umarmen und nach allen Seiten tasten, nicht um das Übermächtige. Also ergänzt sie ein "h", distanziert sich vom Bösen dieser Phantasiegestalt und tauft die kommende neue Epoche "Chthuluzän". Aber das Finstere und Bedrohliche dieser Figur wird sie nicht wirklich los, erst recht nicht, wenn sie erzählt, wie sie in einem kalifornischen Rotholzwald von einer Spinne der Art Pimoa cthulhu (ohne zusätzliches h) gebissen wurde.
Der größte Teil des Buches besteht aus Berichten über und Diskussionen von ganz unterschiedlichen Ereignissen, Forschungsergebnissen und Projekten, die die Vernetzung und Verflechtung des Menschen mit seinen Mitwesen illustrieren: von der Entstehung vielzelligen Lebens durch Zellen, die sich andere einverleiben, über die komplexen Verflechtungen der Lebewesen in empfindlichen Ökosystemen wie dem Korallenriff bis zu Aktivisten, die Korallenriffe aus Wolle häkeln, um auf deren Gefährdung aufmerksam zu machen. Sie berichtet von einer ausgestorbenen Bienenart, von deren Aussehen wir wissen, weil eine noch existierende Orchidee sich darauf spezialisiert hatte, ihre weiblichen Geschlechtsorgane nachzuahmen, um bestäubt zu werden.
Und wie könnte die neue Epoche konkret aussehen? Im letzten Kapitel stellt die Autorin Camille vor, eins der wenigen und umso sorgfältiger geplanten Kinder der Kompostisten, derjenigen Bewegung, die das Schicksal der Welt doch noch herumreißen soll. Kompostisten leiten "Mensch" nicht von "Homo", sondern von "Humus" ab, von Kompost. Als solcher sei er Teil der "großen Suhle", aus der das Leben entsteht.
Die Kompostisten leben an verwüsteten Orten, um diese wiederzubeleben. Ihre Kinder bekommen "ein paar Gene und ein paar Mikroorganismen" einer bedrohten Tierart, die, wie eine Art Totem, ihr Schicksal mitbestimmt. Grenzen wie die zwischen Mensch und Tier, belebt und unbelebt, Natur und Kultur, Natur und Technik, Geist und Körper haben Haraway schon immer eher herausgefordert als gebremst: Warum sich nicht zum Cyborg machen oder mit Gentechnologie experimentieren, wenn das, vor allem Frauen, freier machen kann? Warum sich nicht mit den bedrohten Arten vermischen, um sie und ihre Bedürfnisse besser zu verstehen?
Camille jedenfalls hat Anteile des amerikanischen Monarchfalters, sie kann, wie dieser, schwache chemische Signale in der Luft wahrnehmen und ist orange-schwarz gemustert. Ihr Leben lang reizt es sie, den Flugbahnen dieser Schmetterlinge zu folgen. Bevor sie stirbt, züchtet ihre Familie eine Nachfolgerin, die sich zum fünfzehnten Geburtstag Schmetterlingsfühler als Implantate wünscht.
Durch solche Familienplanung sinkt die Weltbevölkerung bis 2425, dem Todesjahr der vierten Nachfolgerin Camilles, auf drei Milliarden Menschen, ein Drittel davon Symbionten. Die Gefahr, dass die überbordende Menschheit alles andere und auch sich selbst erdrückt, wäre damit gebannt. Doch so rücksichts- und verantwortungsvoll diese Vermischung und Umarmung auch gemeint sein mag, es zeigt sich, dass es der Mensch ist, der gestaltet, was die Tierwelt sich nur gefallen lassen kann. Die Hälfte aller derzeit existierenden Arten sei 2400 verschwunden, prognostiziert Haraway denn auch, viele existierten nur noch als Symbionten. Vor so massivem Schwund rettet auch nicht noch so mutiges Mitwerden, nicht einmal in dieser Fiktion der Zukunft.
Haraway will Unruhe stiften, um uns aufzuwecken. Dazu zeichnet sie gern übersehene Verflechtungen nach und entwirft ihre Vermischungsphantasien. Sie wirbelt aber auch eine große Zahl wenig trennscharfer Begriffe auf und erzeugt damit mindestens so viel Verwirrung wie die Kompostisten im Genpool ihrer Nachkommen. Der Ausgangspunkt ihrer Fadenspiele, die Diagnose, dass es mit Wachstum und Ausbeutung so nicht weitergehen kann, ist freilich unbestreitbar. Es mag nicht alles klar sein, was Haraway im Gegenzug entwirft und imaginiert, doch anregend ist es. MANUELA LENZEN
Donna J. Haraway: "Unruhig bleiben". Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän.
Aus dem Englischen von Karin Harrasser. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018. 350 S., geb.
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