Besprechung vom 13.09.2018
Ein angenehmes Raubtiergefühl wärmte mir das Herz
In diesen Interieurs kann man es sich nicht gemütlich machen: "Landpartie", die gesammelten Erzählungen von Eduard von Keyserling
War er "besser als Fontane", wie es Michael Maar 2011 nach der Lektüre von Keyserlings Roman "Wellen" schrieb? Vermutlich ist der Versuch eines solchen Vergleichs der falsche Ansatz, um sich dem Werk von Eduard von Keyserling zu nähern, dessen Todestag sich jetzt zum hundertsten Mal jährt. Schließlich liegen zwischen beiden Autoren dreieinhalb Jahrzehnte und zudem eine andere soziale Zugehörigkeit. Während Fontane sich in seinem berühmten Gedicht zum 75. Geburtstag als enttäuschter Snob darüber beklagt, dass der preußische Adel nicht zu den Gratulanten gehört, wohl aber "sehr, sehr andre Namen" (wobei bei aller Freude sein latenter Antisemitismus deutlich wird), entstammte Eduard Graf von Keyserling zwar dem baltischen Adel, entfernte sich von diesem Milieu aufgrund gewisser Jugendsünden aber früh und ging zum Studium nach Wien. Klaus Modick hat diese Ablösung und die anschließende Ankunft Keyserlings in der Münchener Boheme gerade in seinem Roman "Keyserlings Geheimnis" fortgeschrieben zu einer schönen Geschichte über die Entstehung des bekannten Porträts von Lovis Corinth, das dieser 1901 von Keyserling gemalt hat.
Ein sehr guter Weg der Annäherung an Keyserlings Werk sind die gesammelten Erzählungen, die Manesse jetzt vorgelegt hat, gründlich kommentiert von Horst Lauinger und mit einem Nachwort von Florian Illies. Neu entdeckte Texte sind zwar nur wenige dabei, aber die chronologische Anordnung ist überaus aufschlussreich und kann ein für alle Male den Verdacht zerstreuen, Keyserling habe im Großen und Ganzen immer dieselbe Geschichte geschrieben, schwebend auf der mittleren Höhe einer gleichbleibenden Melancholie.
Worum geht es in den Erzählungen? Das ist schnell beantwortet. Es geht um Liebe und Tod, um Eros und Thanatos, aber nicht in einer ungefähren Welt, sondern eingebettet in gesellschaftliche Verhältnisse, die Keyserling sehr genau in den Blick nimmt, wobei dieser Blick fast immer ironisch gebrochen ist und zudem eine hinreichend analytische Kälte aufbringt.
Dabei bewegen sich die ersten Erzählungen überraschenderweise fast durchgängig in den niederen Klassen, und einige kreisen fast besessen um den Tod. Eine alte Frau sieht ihren bevorstehenden Tod fast auf den Tag genau kommen; eine ehemalige Landarbeiterin kann zum ersten Mal nicht mehr bei der Ernte mithelfen und erwartet ihren Tod auf dem Feld, inmitten der Getreidehalme. "Ein Toter ist fort. Aber wo ist er?" Dieselbe Frage stellt sich ein junges Mädchen, dessen Freitod dann glücklich scheitert. "Nicht leben - nicht mehr sein - wie ist das?"
Erst mit der 1904 in der "Neuen Rundschau" erschienenen langen Erzählung "Schwüle Tage", von Hermann Hesse in den höchsten Tönen gelobt, erklimmen wir die Höhen des Adels, der übrigens nicht immer baltisch, sondern fast in der Mehrzahl der Geschichten ost- oder westpreußisch ist. In ihr zeigt sich, dass Keyserling als Erzähler keineswegs vorrangig ein Stimmungsmaler war, sondern einen ausgeprägten Sinn für einen stimmigen Plot und eine gute Dramaturgie hatte. Schließlich schrieb er erfolgreich fürs Theater. Die Novelle ist raffiniert konstruiert, und es dauert eine Weile, bis man als Leser begreift, dass nicht der Ich-Erzähler (für Keyserling eine eher seltene Erzählperspektive) der Protagonist der Geschichte ist, sondern sein Vater und die viel jüngere Ellita und das unmögliche Liebesverhältnis, das beide miteinander haben und das schließlich zum Freitod des Vaters führt.
An dieser Novelle, so darf man sie getrost nennen, und an Erzählungen wie "Harmonie" (ein überaus ironischer Titel), "Bunte Herzen", "Am Südhang", "Nicky" und "Im stillen Winkel" lässt sich einiges festmachen. Keyserlings Erzählkunst braucht etwas Platz, denn die genannten Titel, die zu den stärksten des Bandes zählen, sind alle zwischen vierzig und siebzig Seiten lang. Andernfalls kann sich seine Dramaturgie nicht wirklich entfalten und verbleibt zuweilen zu sehr im Skizzenhaften. Das hat wohl dazu geführt, dass der Autor unglücklicherweise immer wieder dem "Impressionismus" zugerechnet wurde, ein fatales Fehlurteil, worauf zu Recht schon vor Jahren Florian Illies hingewiesen hat. Keyserling sei, schrieb Illies damals, kein Nostalgiker gewesen, im Gegensatz zu vielen seiner Leser, sondern jemand, der über einen kalten und genauen Blick verfügte. Er war, kann man hinzufügen, auch kein zarter Hintupfer von Stimmungsbildern. In seinen Erzählungen geht es nicht um Stimmungen, sondern um Lebenslagen. Der Begriff "Lebenslage" kommt in den hier gesammelten Erzählungen in der Tat wenigstens fünfzig Mal vor, eifrig benutzt sowohl vom jeweiligen Erzähler wie auch in den Dialogen der handelnden Personen.
Die Lebenslage, von der berichtet wird, ist dabei oft so verfasst, dass die Protagonisten sie gern ändern würden - aber nicht können. Berichtet wird von dem, was wir heute Ausbruchsversuche nennen würden, und die enden oft in Resignation und falscher Versöhnung, oft aber auch im gewaltsamen (Frei-)Tod. Die Sehnsucht nach dem Ausbrechen betrifft übrigens Frauen wie Männer. Keyserling schreibt keine sehnsuchtsvollen Nachrufe auf das Land und das Milieu seiner verlassenen Herkunft. Da gibt es nicht ein Fitzelchen Heimatliteratur. Der Mann war schließlich mit 23 Jahren von zu Hause weg und lebte in den Großstädten Wien und München, durch seine Syphilis zunehmend erblindet, in einer Zeit, die als nachträglich so benannte Belle Époque auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zutrieb.
Das Missverständnis, er sei der Dichter und Sänger der baltischen und ostelbischen Adelswelt gewesen, rührt vielleicht von der plastischen und zuweilen recht derben Schilderung dieses Milieus her, vor allem, wenn es um den Sex bei und mit den niederen Ständen geht. Der Erzähler in "Schwüle Tage" etwa wird über seinen Liebeskummer von der Magd Margusch getröstet, und die Kammerjungfer Lina in "Am Südhang" hat die Stirn voller nasser Haarsträhnen: "Sie kam von einem Stelldichein hinter den Jasminbüschen, denn Lina hatte zu jeder Tageszeit Stelldicheins hinter den Jasminbüschen."
Den endgültigen Zusammenbruch der Belle Époque hat Keyserling nicht mehr erlebt; er durfte sieben Wochen vor Ende des Ersten Weltkriegs sterben. Der spielt übrigens in seinen letzten Erzählungen (im Gegensatz zu den Romanen) eine große Rolle und ist mehr als zeitgeschichtliche Staffage. Die letzte Erzählung, "Im stillen Winkel", im Mai 1918 erschienen und eines der Meisterstücke dieses Bandes, wird konsequent aus der Perspektive des elfjährigen Paul erzählt, dessen Vater, zwar adlig, aber als Bankdirektor schon Funktionselite, nicht mehr Grundbesitzer, am Ende "fällt". Weinen kann der Sohn darüber nicht, sosehr er sich auch Mühe gibt, aber kann vor den Dorfkindern - er ist mit der Mutter in der Sommerfrische - damit angeben. Das ist sein Anteil am falsch Heroischen.
Und dann sind da diese einzelnen Sätze, die wie Perlen aus den Texten hervorleuchten und den Leser innehalten lassen. "Ein angenehmes Raubtiergefühl wärmte mir das Herz." Oder: "Alles hatte hier Nerven, alle Menschen, alle Möbel, alle Blumen. Er selbst bekam auch Nerven." Oder: "Aber irgendwo musste sie doch auch sein, wenn man auch sechzehn Jahre alt ist, man ist doch ein Mensch." Schließlich: "Abends lasen sie ein gutes Buch. ,Ein gutes Buch', das war ein Ausdruck, den Reichel liebte." Solche schrägen Sätze, geradezu Stolpersteine, findet man in Fontanes Plaudereien nirgends. In Keyserlings Erzählungen dagegen kann man es sich nie gemütlich machen. Sie gehören ganz und gar der Moderne an. Deshalb sollten wir ihn lesen und nicht alle naselang "wiederentdecken".
JOCHEN SCHIMMANG
Eduard von Keyserling: "Landpartie". Gesammelte Erzählungen.
Herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger. Nachwort von Florian Illies. Manesse Verlag, München 2018. 740 S., geb.
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