"Unbedingt empfohlen." ekz.bibliotheksservice, 05.10.2020
Besprechung vom 28.12.2020
Tagebuch, rückwärts
In Eileen Merrimans "Missing Sophie" trügt der Schein
Als die Leser in den Thriller einsteigen, ist der Vorfall, um den es geht, schon zwei Monate her, aber noch lange nicht aufgeklärt. "Missing Sophie" der neuseeländischen Autorin Eileen Merriman erzählt von drei Freundinnen, der hübschen, der sportlichen und der klugen Sophie, einem "Trio of Sophies", wie der Roman in der Originalausgabe heißt. Der Titel der deutschen Ausgabe trifft es aber insofern, als dass von dieser Freundschaft nicht mehr viel übrig ist, denn eine dieser drei Sophies wird, genau, vermisst. Die anderen beiden haben sich, als der Roman beginnt, schon voneinander entfernt. Erfahren tun wir alles von "der klugen Sophie", genannt Mac, die die Ereignisse in ihrem Tagebuch festhält. Dieses Tagebuch, und das ist einer der erzählerischen Clous des Romans, müssen die Leser jedoch in chronologisch umgekehrter Reihenfolge lesen, so dass sie sich Stück für Stück dem Kern der Geschichte, dem Tag null des Verschwindens, nähern. In ihrem Tagebuch berichtet Mac von ihrer Beziehung zu James Bacon, einem ihrer Lehrer. Die hält sie vor der Polizei, die im Fall der anderen Sophie ermittelt, aber geheim, um sie stattdessen der verschwundenen, "hübschen" Sophie anzudichten.
Die Handlung wiederzugeben ist kompliziert, vor allem weil das, worum es eigentlich geht, erst im letzten Drittel des Romans wirklich Form annimmt. Natürlich ahnen wir, dass da etwas nicht stimmen kann, fragen uns, warum die Beziehung zwischen James und Mac zerbrochen und natürlich auch, wo denn die Verschwundene geblieben ist. Um das herauszufinden, müssen sich die Leser durch eine Reihe von Klischees kämpfen: Eine Schülerin, die eine Beziehung zu ihrem attraktiven Lehrer beginnt, weil der tolle Muskeln hat, ihr ab und zu die Welt erklärt und teure Geschenke macht, ist nicht unbedingt neu. Das alles wird so plump geschildert, dass man zuweilen den Eindruck hat, man lese hier "Fifty Shades of Grey" für Teenies: "Sein Mund war an meiner Kehle, und ich legte den Kopf in den Nacken. Ja, er war wirklich ein Vampir. Je mehr er von mir kostete, desto mehr schien er zu brauchen."
So simpel viele der Beschreibungen sind, so komplex ist aber die Form, die Merriman für ihre Erzählung gewählt hat. Schon bald merken die Leser, dass sie Mac, deren Tagebuch sie lesen, nicht ganz trauen können. Nie erzählt sie alles, was sie weiß. Auch dass die Tagebucheintragungen rückwärts laufen, ist reizvoll, doch diese Methode hat Tücken: Obwohl das Tagebuch immer weiter in die Vergangenheit geht, müssen die Leser für ihr Verständnis einige Informationen am Anfang des Buchs, also am Ende des Tagebuchs bekommen. In der Geschichte sieht das dann so aus, dass Mac die Geschichte ihres Kennenlernens mit James erst Wochen nach dem Verschwinden von Sophie beschreibt und intimere Details der Beziehung schon am Anfang des Tagebuchs, aber erst am Ende des Romans ans Licht kommen. Realistisch ist das nicht, weil Macs Erzählung und Erinnerung nicht sehr assoziativ sind, sondern linear verlaufen.
Merriman setzt auf die üblichen Kniffe des Thrillergenres: Sie gibt Hinweise, manchmal auch falsche, dafür sind die richtigen nicht sehr subtil: "Erinnerungen sind fehlbar, formbar und entsprechend unzuverlässig", heißt es da. Und so offensichtlich, wie sich der Roman immer wieder um Todesursachen und Pathologie dreht, ist wahrscheinlich nicht zu viel verraten, wenn man sagt, dass die dritte Sophie nicht in den Urlaub gefahren ist. Das Ende ist trotzdem unerwartet, weil es auf subtile Art sozialkritisch ist, was man vom Rest des Romans nicht immer behaupten kann. Denn obwohl Merriman bestimmte Sachen lieber zehnmal schreibt, bevor irgendjemand etwas entgeht, werden die Leser mit dem Kernthema der Geschichte relativ alleingelassen. Und das hat es in sich: Viel soll hier natürlich nicht verraten werden, nur dass eine Beziehung geschildert wird, die in dieser kritischen Form eher selten Gegenstand von Jugendbüchern ist. Was mit der hübschen Sophie passiert ist, wird dadurch fast nebensächlich, weil hauptsächlich die Dynamik zwischen Mac und James im Vordergrund steht.
Man fragt sich trotzdem, ob hier die Form des Thrillers genutzt wird, um sozialkritische Themen zu verarbeiten, oder ob vielmehr diese Themen dazu dienen, dem Thriller zu mehr Spannung zu verhelfen. Letzteres wäre fatal.
ANNA VOLLMER
Eileen Merriman: "Missing Sophie". Roman.
Aus dem Englischen von Wolfram Ströle. Oetinger Verlag, Hamburg 2020. 240 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 14 J.
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