Besprechung vom 07.09.2023
Aus farblosem Gelb wird ein buntes Spektakel
Witz in der Talsohle des Lebens: Elena Fischers Roman "Paradise Garden" ist ein ebenso bewegendes wie komisches Familiendrama
Sie wohnen am Stadtrand in einem Hochhaus neben der Autobahn. In einem von fünf Wohnblöcken, die im Halbkreis angeordnet "eine kleine bunte Stadt" bilden. Jedes Haus, heißt es in "Paradise Garden", war in einer anderen Farbe gestrichen. Ausgerechnet ihres in einem "kraftlosen Gelb". Die meisten Leute hier hatten das Wort "gewinnen" längst aus ihrem Wortschatz gestrichen, sagt Billie. Sie ist eine aufgeweckte Vierzehnjährige, die bald die größte Prüfung ihres Leben bestehen muss. "Wenn man die Adresse angab, bei einer Bewerbung zum Beispiel, dann wussten die Leute sofort Bescheid. Vielen Dank für ihr Interesse, der Nächste bitte. Meine Mutter konnte ein Lied davon singen."
Billies Mutter ist Reinigungskraft am Tag und Kellnerin bei Nacht. Sie ist vor circa vierzehn Jahren aus Ungarn in die Bundesrepublik gekommen. Einen Vater hat Billie nicht, und es wird auch nicht darüber geredet, warum das so ist. Billie lebt ein Leben, das zugleich reich und entbehrungsreich ist. Und das liegt an Billies Mutter, die einfach in jeder noch so misslichen Lage einen guten Plan hat, eine gute Geschichte oder zumindest schöne Worte. Wenn die Nachbarin mit einem Veilchen auf der Matte steht, sagt Billies Mutter, ihr Freund habe ihr "Blumen mitgebracht". Das klingt schon weniger schrecklich. Wenn Billies Mutter über die bipolare Nachbarin spricht, dann sagt sie, Luna sei wie das Meer: "Wenn sich das Wasser nach der Flut zurückzieht, bleibt nur grauer Morast übrig."
Das Geld, das Billies Mutter verdient, reicht nie bis zum Ende des Monats. Deswegen muss man den Tatsachen mit Schläue begegnen. Wasser kommt nur genau so viel in den Wasserkocher, wie man braucht: Strom sparen. Shampooflaschen werden von der Hälfte an mit Wasser gestreckt: Seife sparen. Nudeln schmecken am besten mit Ketchup: Lebensmittel sparen. Am Anfang des Monats wird sich aber immer etwas geleistet. Da darf Billie sich einen unverschämt dicken Eisbecher bestellen, den Paradise Garden. Danach sagt Billies Mutter: "Heute springen wir vom Zehn-Meter-Turm. Heute ist ein guter Tag dafür."
Und dann kommt die Sache mit dem Radio. Eine Mitmachsendung, bei der Billie und ihre Mutter Geld gewinnen. Eine überschaubar schöne Summe, und weil niemand so gut darin ist, Farbe in "farbloses Gelb" zu bringen wie Billies Mutter, gibt es jetzt einen bunten Plan. Vier Wochen Frankreich. Schlafen im Auto. "Laissez-faire" und "Savoir-vivre". Die Sommerferien sind gerettet, und der klapprige Nissan hat noch ein Jahr TÜV. Nur leider kommt dann alles anders als geplant. Auf absolut unglaubliche, tragische Weise anders. Plötzlich steht nämlich Billies ungarische Großmutter auf der Matte und stört das gute einfache Leben mit Altlasten aus der Vergangenheit. "Seit Großmutter da war, teilten wir uns die Luftmatratze im Wohnzimmer, wie damals, als ich noch ganz klein war. Ich stellte mir vor, dass wir auf einem Floß trieben. Über mir funkelten Milliarden Sterne, unter mir erstreckte sich der Meeresgrund." Wenig später ist Mutter nicht mehr auf dem Floß. Sie ist tot.
Man würde niemandem einen Gefallen tun, die genaueren Verwicklungen dieses Familiendramas preiszugeben, das Elena Fischer hier ebenso behutsam wie spannend entfaltet. Denn "Paradise Garden" ist eine Roadnovel, bei der man immer bereit ist, sein letztes Hemd für das Glück ihrer Figuren oder zumindest das Ende ihres Unglücks zu geben.
Elena Fischer hat in ihrem Debüt nicht nur eine Heldin geschaffen, die man so schnell nicht mehr aus den Augen lässt. Sie hat auch eine auf beseelte Weise traurige Geschichte über ein Kind geschrieben, das seine Mutter verliert, die auch Partnerin in Crime war, Vertraute und Verbündete. Aber sie hat vor allem ein Buch geschrieben darüber, wie der ohnmächtig machende Schmerz erst dann nachlässt, als es dem trauernden Kind gelingt, sich seine "eigene Geschichte" zu erobern. Mit einer blauen Perücke auf dem Kopf (ihre echten Haare sind Billie im Schock ausgefallen) macht sie sich auf die Suche nach ihrem Vater. Von ihm gibt es nur ein Foto im Wäscheschrank der Mutter. Wobei man sich unter Foto Folgendes vorzustellen hat: Mutter mit Billie-Baby, um ihre Schultern der Arm eines Mannes, der aus dem Foto gerissen wurde. Das ist nicht viel. Und doch baut Elena Fischer das Indiz zu einer cleveren Detektivstory aus, die Billie bis hinauf in den Kosmos einer Nordseeinsel führt, wo ihr in allen Facetten die Natur nahe kommt, und an deren Ende es tatsächlich so etwas wie einen Vater gibt. Zumindest aber eine Geschichte, die sich auf heilsame Weise vom bisherigen Fixstern in Billies Leben löst. In den Geschichten des Mannes, der Mutter mal geliebt hat, können beide weiterleben: Mutter in Billie und Billie allein.
Was diesen Roman so erwähnenswert macht, ist der grandiose Lebenswille seiner beiden Hauptfiguren. Ihr Erfindungsreichtum, ihre Selbstachtung, ihr bewundernswertes Beharrungsvermögen gegen alle Widrigkeiten, das ohne jede Bitterkeit auskommt und noch in der größten Talsohle des Lebens Witz versprüht. Sozialkitsch kommt da keiner auf.
"Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, sagst du entweder Nein oder Danke. Sag niemals einfach Ja", hat Billies Mutter ihrer Tochter eingeschärft. Und als Billie zwölf war, sagte Mutter mit Blick auf den Nissan: "Deine Beine sind jetzt lang genug." Mit dieser Einstellung und den unerwarteten Fahrskills setzt sich die Vierzehnjährige ans Steuer und nimmt ihr Leben in und ihre Leser an die Hand. KATHARINA TEUTSCH
Elena Fischer: "Paradise Garden". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2023. 343 S. geb.
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