Noch nie sind sie sich begegnet: María und Alicia, Großmutter und Enkelin. Die Ältere kommt Ende der Sechziger einer Schande wegen nach Madrid, arbeitet als Kindermädchen, als Hausangestellte, der komplette Lohn fortan bestimmt für die zurückgelassene, fast unbekannte Tochter. Die Jüngere flieht Jahrzehnte später in die Stadt, von einer Tragödie um ihre Herkunft und den Schlaf gebracht. María und Alicia, beide führen sie ein Frauenleben, beiden fehlt das Geld. Und damit die Zuversicht und das Vertrauen. In sich selbst, ihre Männer, dieses Land, in dem sich alles verändert zu haben scheint, bis auf das eigene Elend. Und plötzlich fordert jede auf ihre Weise die hergebrachte Ordnung heraus.
Als literarische Ausnahmeerscheinung gefeiert, wurde ihr Sensationsdebüt blitzschnell zum Klassiker einer neuen Generation. Elena Medel schreibt darin die jüngere Geschichte Spaniens aus Sicht der vergessenen Hälfte. Die Wunder ist ein eleganter feministischer Bildungsroman über die herrschenden Kräfte, über das Geld, das Begehren, die Mutterliebe, und wie sie als Waffen seit jeher gegen die Frauen verwendet werden. Augenöffnend und wunderschön.
Besprechung vom 29.10.2022
Blutsbande schaffen keine Familie
Das Leben macht sie: Elena Medels "Die Wunder"
Unter der Vielzahl neu übersetzter spanischer Romane zum diesjährigen Buchmesse-Gastlandauftritt ragt der einer Vertreterin jener Generation heraus, die vor zehn Jahren als Jugendliche oder junge Erwachsene den ökonomischen Niedergang ihrer Gesellschaft erlebte und dagegen auf die Straße ging - als "indignados", die Empörten. Elena Medel wurde 1985 geboren, in Spanien als Lyrikerin gefeiert und 2020 mit ihrem Debütroman "Las maravillas" einem größeren Publikum bekannt. Das schmale Buch, nun als "Die Wunder" auf Deutsch erschienen, erzählt eine weit ausgreifende Geschichte, die mitten in Madrid ihren Ausgang nimmt, an der Atocha-Bahnstation. Dort lernen wir Alicia kennen, eine junge Frau, die vom Land in die große Stadt gezogen ist, wie es vier Jahrzehnte zuvor schon ihre Großmutter Maria getan hatte. Doch von dieser familiären und sozialen Kontinuität weiß Alicia nichts: "Ich habe sie nie gesehen", berichtet sie in einer Selbstauskunft über die Traumata ihrer Jugend. "Sie hat meine Mutter zur Welt gebracht, sie ein paarmal besucht, als sie klein war, und hat sich dann in Luft aufgelöst. Ich glaube, sie lebt auch in Madrid."
Aber das ist kein Grund für Alicia, sich dort auf die Suche nach Maria zu begeben. "Nicht Blutsbande machen die Familie, sondern das Leben", setzt Elena Medel ihrer Hauptfigur in den Kopf. Und da Alicia und Maria in der spanischen Hauptstadt nebeneinanderher leben, ohne voneinander zu wissen, können sie keine familiären Gefühle entwickeln, obwohl gerade ihre Erfahrungen sie hätten zusammenschweißen müssen. Denn Alicia wiederholt nicht nur die Landflucht ihrer Großmutter.
Mit Susanne Lange hat der Suhrkamp Verlag eine der angesehensten Übersetzerinnen aus dem Spanischen für "Die Wunder" gewonnen. Die schnörkellos knappe Sprache dieses Romans, der aber durch sparsamen Gebrauch dann umso stärkerer Bilder (das Suchen nach der unbekannten Enkelin im Spiegel) und ständige Perspektivenwechsel (nicht nur zwischen, sondern auch auf die beiden Frauen) eine komplexe Komposition bietet, fordert Langes ganzes Können heraus. Und ihr ganzes Kennen, weil in Medels Buch nicht nur Zeitgenossenschaft steckt, sondern die Traditionslinie des spanischen Gesellschaftsromans seit dem Ende der Franco-Zeit. apl
Elena Medel:
"Die Wunder". Roman.
Aus dem Spanischen
von Susanne Lange.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022.
221 S., geb.
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