Besprechung vom 12.12.2020
Mais quand même, Vivienne!
In Elsa Koesters Debütroman sucht eine Berlinerin in Paris nach ihrer Familiengeschichte
Den jungen Mann, der ihre Wohnung mit den anderen Partygästen betritt, kennt Lisa nicht. Er sieht aus wie der deutsche Dichter Ronald M. Schernikau, stellt sie fest, was doppelt irritiert, schließlich ist Schernikau in diesem Moment bereits ein Vierteljahrhundert tot, und was hätte er auch zu Lebzeiten in dieser Wohnung im 19. Bezirk von Paris zu suchen gehabt? Der Mann jedenfalls erzählt von der Vorbesitzerin der Wohnung, einer alten Frau, deren zwei Töchter sich gar nicht um sie gekümmert hätten, und von der Abtreibung, die eine der Töchter in dieser Wohnung erlitten hätte. Wenn Lisa übrigens Genaueres über all das wissen wolle, dann solle sie einfach Adam fragen, der wohne jetzt hier.
Der Partygast scheint sich also auszukennen. Was er nicht weiß, ist, dass es Lisas Wohnung ist, in der er sich so aufbläst, dass er ausgerechnet Lisa von ihrer eigenen Großmutter erzählt, und zwar entstellte Fragmente von Episoden, die wiederum Lisa zuvor ihrer Mitbewohnerin Larissa mitgeteilt hatte, über die sie dann an jenen Adam gelangten, der hier seit ein paar Tagen Unterschlupf gefunden hat und nun Wildfremde mit seiner Version von Lisas Familiengeschichte traktiert. Und so wie die von der Großmutter geerbte Wohnung zuvor von allen möglichen Verwandten oder Freunden Lisas um Teile des Inventars gebracht worden war, so wie nun, auf der Party, zu der nicht Lisa, sondern der Mitbewohner Adam geladen hatte, der schöne Holztisch, den Lisa ins heimische Berlin mitnehmen will, ruiniert wurde, so erlebt die Doktorandin nun, wie ihr auch die Familiengeschichte genommen werden soll: indem ein Fremder sie auf das Skandalträchtige reduziert.
Was das eigentlich für eine Geschichte ist, darum ringt Lisa, Protagonistin im ersten Roman der 1984 geborenen Journalistin und Aktivistin Elsa Koester, spätestens seit dem Krebstod ihrer Mutter Marie. Von der erbt sie die Wohnung in Paris, die einmal der Großmutter Lucile gehört hatte und die auf Marie und deren Schwester Solange übergegangen war, während Lucile weiterhin dort wohnte, im Bett las, ihre jahrzehntealten Rituale fortführte und eigentlich niemanden sehen wollte, schon gar nicht ihre Töchter.
Lucile gehören die ersten Seiten des multiperspektivischen Romans: Sie resümiert aus dem Jenseits ihr Leben, das fast hundert Jahre währte, jetzt ist die Agnostikerin aus christlichem Haus offenbar bei Allah, was eine hübsche Pointe ist. Ihr Name fällt fast nie auf den mehr als vierhundert Seiten des Romans, meist wird sie "Mamie" genannt, aber dass "Lucile" nicht weit von "Lucifer" ist, wird ihre Tochter Marie, auch sie eine besessene Leserin, genau registriert haben - jedenfalls muss sich Lisa oft genug von ihrer Mutter anhören, die Großmutter sei buchstäblich der Teufel selbst, und manchmal ist sie dabei, wenn Marie Fotos von Lucile verbrennt, um sie zu bannen.
Maries Erzählungen, gerichtet offenbar an ihre Tochter, bilden den einen Strang des Buches, kapitelweise durchschossen vom anderen, der hauptsächlich im Sommer 2016 angesiedelten Gegenwart des Romans, wiederum durchbrochen von wenigen Erinnerungen Lisas an meist schwierige Momente mit der alkoholkranken Mutter. Die Doktorandin - sie forscht über die Epoche Sturm und Drang - ist nach Paris gekommen, um die geerbte Wohnung zu verkaufen und zuvor noch einmal zu sichten, was sie gebrauchen kann. Dort wohnt gerade Larissa, eine Freundin von Lisas Mitbewohnerin Anne. Es sind die Wochen der "Nuit Debout"-Proteste, die sich gegen die Arbeitsmarkt-Politik der französischen Regierung richten (als Journalistin hatte Koester darüber berichtet); Lisa und Larissa nehmen daran teil und erleben auch, wie die Polizei gegen die Unterstützer obdachloser Migranten vorgeht. Zugleich wird Lisa mit ihrer Familiengeschichte konfrontiert, denn Lucile brachte ihre beiden Töchter im damals französisch beherrschten Tunesien zur Welt, wo ihre Familie einiges Land besaß. Zu den frühen Erinnerungen Maries gehört dann auch die Freundschaft mit einem arabischen Mädchen, die von beiden Familien nicht gern gesehen wird. Ihre Freundin jedenfalls sagt sich von ihr los, als die Franzosen nach den Spannungen im Algerienkrieg, die auch Tunesien betreffen, das Land verlassen müssen - "Koffer oder Sarg" lautet die Alternative.
Koester packt eine Menge in diesen Familienroman über drei Generationen: die Kolonialismus-Debatte sowieso, aber auch Feminismus und Islamkritik, den Streit ums Kopftuch, die Folgen von ganz unterschiedlichen Wellen der Migration und nicht zuletzt die Frage, wie sich Erinnerung konstituiert, wenn sie auch aus zweiter Hand stammt und dabei aus verschiedenen Quellen gespeist wird - besonders dies zeigt die Autorin virtuos, wenn sie mit bemerkenswerter Sicherheit Positionen über den Roman hinweg mit ihren Gegenpositionen konfrontiert und keine Entscheidung darüber fällt.
Dabei erscheinen Lisas Mutter, Großmutter, Tante und Cousine sehr konturiert, auch die Nebenfiguren prägen sich ein, nur Elsa selbst bleibt blass, obwohl durch deren Augen vieles gesehen wird und sie zudem die Adressatin der Geschichten ihrer Mutter ist. Dem Roman schadet das nicht, zumal Lisas äußerlich verhaltene Reaktionen auf das Erlebte und Gehörte bisweilen von einer deutlich erregteren Innenwelt kontrastiert werden.
Allerdings leidet der Roman an seiner Sprache, und das nicht zu knapp. Mit ganz viel "bof", "putain", "mondieu", "hein" und "Oh làlà" wird Frankreich-Atmosphäre in die auf Deutsch wiedergegebenen Dialoge gepustet, und völlig kurios sind dann Sätze, die unter Frankophonen geäußert werden wie "Mais quand même, Vivienne, aber wirklich! Mit dir kann man echt nicht ausgehen!". Schwerer wiegt der Hang jeder der unterschiedlichen Erzählstimmen des Romans zu bedeutungsschwangeren Wiederholungen: "Sie hat angerufen. Sie hat Tata Solange angerufen", heißt es dann geschwätzig, oder: "Es wurde geräumt, das Lager muß geräumt worden sein. ,Sie haben es geräumt?', fragt sie die Frau." Und die antwortet: "Geräumt, geräumt, natürlich, ständig räumen sie!" So geht es oft.
"Studierst du Geschichte?", fragt das Schernikau-Double auf der Party, als Lisa seine Darstellung genervt korrigiert. Nein, sagt sie, Literatur. Dass dieser Zugang zu den Dingen nicht bedeutet, die familienhistorischen Realien zu vernachlässigen, zeigt "Couscous mit Zimt" sehr schön. Und leider auch, dass aus dem Hintergrund eines Literaturstudiums nicht zwingend ein ästhetisch überzeugender Roman erwächst.
TILMAN SPRECKELSEN
Elsa Koester: "Couscous mit Zimt". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2020. 448 S., geb., 24,- [Euro].
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