Elsa Koester ist stellvertretende Chefredakteurin bei der Wochenzeitung Der Freitag. 2019 verbrachte sie beruflich eine Woche in Görlitz. Ihre Beobachtungen dort inspirierten sie zu diesem sehr lesens- und nachdenkenswerten Roman.
Nana lebt in Berlin, sie ist Coach und kommt jetzt in die fiktive sächsische Stadt Grenzlitz an der deutsch-polnischen Grenze, um dort Katja Stölzer zu coachen, die Bürgermeisterkandidatin der Zukunftsgrünen. Denn in Grenzlitz sind demnächst Wahlen, und die Zukunftsgrünen, die Konservativen und die Blauen sind in etwa gleichauf.
Stölzel und ihre Parteifreunde geben sich allerdings wenig kooperativ, man könnte auch sagen, sie mauern. Das mag daran liegen, dass Nana nicht aus Sachsen kommt und das Terrain nicht kennt. Weiß sie überhaupt, mit wem sie es hier zu tun hat? Sie versucht eine Annäherung, kommt mit den Leuten ins Gespräch und hört sich an, was sie bewegt. Eine dieser Personen ist Falk Schloßer, rechte Hand des Spitzenkandidaten der Blauen, der wie Katja in Grenzlitz aufgewachsen ist. Man kennt sich und hat im Alltag miteinander zu tun. Aber über das Private hinaus mit den Blauen reden? Kommt das beim Wähler richtig rüber? Ja, sagt die Coachin. Man muss doch den politischen Gegner kennen und wissen, wie der tickt, damit man ihm begegnen kann.
Gegen ihren Willen und ihre Überzeugung fühlt Nana sich zu Schloßer hingezogen. Das ist ihr selbst suspekt, doch da ist etwas in beider Vergangenheit, das sie gegenseitig anzieht, denn sie haben ähnliche Erfahrungen gemacht.
Von Nanas Vergangenheit erzählt der Roman in einer parallelen Handlung. Nana tauscht E-Mails aus mit ihrem Bruder Noah, der jetzt aber lieber ihre Schwester sein möchte. Damit kommt Nana nicht klar. Noah war ihr Beschützer, ihr Kümmerer, wenn die heimwehkranke und psychisch angeschlagene Mutter dazu nicht in der Lage war. Diese Rolle will er jetzt nicht mehr. Doch damit will Nana sich nicht auseinandersetzen, denn dann kommt raus, das Noah sich nicht in jeder Hinsicht gut gekümmert hat. Zuerst war mir nicht klar, warum die Autorin mit Noah das Thema der Gender-Identität aufmacht, da sie dieses bereits bei einer anderen Person einfließen lässt. Dort ist das für Nana völlig in Ordnung, aber bei Noah hat sie Schwierigkeiten, es anzunehmen. Toleranz kann bröckelig werden, wenn man persönlich involviert ist. Ich vermute, dass EK diesen Punkt illustrieren möchte.
Nana ist anders, als ich mir einen Coach vorstelle. Sie wirkt auf mich wenig gefestigt und könnte zuweilen selbst Coaching vertragen. Unklar ist mir, warum und wie sie eine Person unterstützen möchte, die den Eindruck vermittelt, das gar nicht zu wollen. Die Schlüsselfigur in diesem Roman ist Falk Schloßer. Als Justizvollzugsbeamter hat er einen sicheren Beruf, als Langzeitsoldat mit Auslandseinsätzen hat er über den heimischen Tellerrand geblickt, und als getrennt lebender Vater weiß er um die Notwendigkeit von Absprachen und Kompromissen. Er ist nicht gesellschaftlich abgehängt. Warum also ist er bei den Blauen? Er ist intelligent, hat gute Umgangsformen, ist sprachlich eloquent, kann eine Argumentationskette aufbauen. Das sind Eigenschaften, die er auch in den Dienst einer anderen Partei stellen könnte, z. B. den der Zukunftsgrünen. Welcher Punkt im Leben entscheidet darüber, wo wir uns politisch verorten, welche Haltungen wir einnehmen? Nana und Falk haben vergleichbare Kindheitserfahrungen gemacht, vermutlich fühlen sie in bestimmten Belangen ähnlich, haben auch ähnliche Eigenschaften, trotzdem sind sie ideologisch extremst auseinander. Wo ist der Kipppunkt im Leben? Das ist eine der zentralen Fragen des Romans.
Lösungsvorschläge bietet EKs Roman nicht an. Er zeigt aber auf exemplarische Weise auf, wie sich eine Gesellschaft aufheizen kann, wenn Haltungen in zentralen Fragen auseinanderdriften und wenn es keine eindeutigen Mehrheiten mehr gibt. EK hat einen sehr treffenden Roman zur Zeit geschrieben, durch den ich mich am Anfang etwas durchbeißen musste, der mich dann aber auf eine Art absorbiert hat, dass ich mich bei der Lektüre wie eine Person im Geschehen fühlte.