Besprechung vom 14.11.2024
Ist die Geschichte eine Mülldeponie?
Einladung zur Auseinandersetzung: Zwei der berühmtesten italienischen Nachkriegsromane sind jetzt neu übersetzt worden - Curzio Malapartes "Die Haut" und Elsa Morantes "La Storia".
Das buchmessebedingt reiche diesjährige Italien-Programm bietet zwei prominente Neuübersetzungen moderner Klassiker: Curzio Malapartes "Die Haut" (1949) und Elsa Morantes "La Storia" (1974). Gemein haben die Romane auf den ersten Blick dreierlei: Beide erzählen vom Zweiten Weltkrieg, beide waren bei Erscheinen ein Skandal, beide lagen bis dato nur in zeitgenössischen Übersetzungen vor. Davon abgesehen könnten sie unterschiedlicher nicht sein: "Die Haut" erzählt von Neapel nach der Befreiung durch die Amerikaner und malt aus Sicht eines Verbindungsoffiziers ein apokalyptisches Kollektivtableau. "La Storia" hingegen berichtet das karge Leben der jüdischen Grundschullehrerin Ida und ihres kleinen Sohnes Useppe im Rom der Besatzungs- und Befreiungsjahre, ein nüchtern erfasstes Kernfamilienschicksal, von historischen Daten objektivierend gerahmt. Es handelt sich um zwei Extrempole der an Weltkriegsromanen reichen italienischen Literatur.
Curzio Malaparte (1898 bis 1957), bürgerlich Kurt Erich Suckert, Sohn eines Deutschen und einer Italienerin, nimmt den Standpunkt der Upperclass ein. Der ehemalige Futurist und Mussolini-Fan richtet den Rauschblick eines gebildeten Skeptikers - nicht das letzte Paradox - auf Europas Kollaps. Sein Held und Erzähler streift von Herbst 1943 an durch Neapel und Italien, oft in Begleitung von Amerikanern wie dem Colonel Jack Hamilton, die ihm als Kontrastfiguren und Stichwortgeber dienen: Die Gutgläubigkeit eines "Christian Gentleman" lässt seinen gequälten Zynismus in vollem Glanz erstrahlen. Der verzweifelte Weltkriegs-Dandy durchlebt Szenen des Schreckens, des Grauens, der Absurdität.
"Die Haut" setzt ein mit der Pest, seit Boccaccios "Decameron" das Katastrophenszenario der italienischen Literatur schlechthin. Hier wird es nur symbolisch aufgerufen, denn "dies war das Außergewöhnliche an der nagelneuen Seuche: sie erfasste nicht den Körper, sondern die Seele". Malaparte überbietet sie immer weiter in einer Reihe grotesker Körper und Situationen. Sein Erzähler besucht eine Jungfrau, der Soldaten für Geld zwischen die Beine blicken. Er geht zu Feiern beim Adelsspross Jeanlouis, der sowohl Marxismus als auch Männerliebe predigt: "Eine Masse aus enttäuschten, verderbten, verzweifelten jungen Leuten, die damit spielen, Päderasten zu sein, so wie sie Tennis spielen würden." Er besichtigt den "Kindermarkt", wo "halbnackte Jungen von acht bis zehn Jahren" marokkanischen Soldaten angedient werden. Schließlich bricht der Vesuv aus, die Stadt wird bombardiert - und zwischendrin erinnert der Erzähler sich daran, wie er in der Ukraine 1941 durch einen Wald voller gekreuzigter Juden im Todeskampf ritt.
Härtester Verfallsmarker ist die Prostitution: "Während die Preise für Zucker, Öl, Mehl, Fleisch, Brot gestiegen waren und weiter stiegen, fiel der Preis für Menschenfleisch von Tag zu Tag." Schuld ist ein Überangebot: "In den letzten Wochen hatten die Großhändler eine große Partie sizilianischer Frauen auf den Markt geworfen." Verscherbelt werden selbst die amerikanischen Soldaten, die man auszunehmen versucht - "als Sieger in Neapel gelandet zu sein und dann verkauft und gekauft zu werden wie arme Sklaven". Wohlgemerkt handelt es sich um Schwarze - wie auch bei der Behandlung von Homosexualität oder Kleinwüchsigen (die vom Pendino di Santa Barbara "gehören, kotig und runzlig, wie sie sind, zu den hässlichsten Zwergen der Welt") wird heutige politische Korrektheit verletzt. Feiner und bösartiger sind Gesellschaftsszenen wie ein Festmahl bei General Cork, im Laufe dessen das amerikanische Dosenfleisch "Spam" auf dem feinsten Porzellan serviert wird, das der europäische Adel zu bieten hat. Ironisches Filetstück ist eine Mrs. Flat, die "wie die moderne Kopie eines alten Bildes" wirkt, "deren Lack zu stark glänzt, zu neu wirkt. Sie war, so weit würde ich mich vorwagen, ein Original, aber ein falsches."
Malaparte erzählt chronologisch, es überwiegt jedoch die Organisation nach Themen, denen je eines der zwölf Kapitel gewidmet ist. Ebenfalls abweichend von einem klassischen Roman ist die Dominanz des Erzählerblicks, der zwischen Delirium und Analyse, Rausch und Ekel oszilliert - das subjektive Gegenstück zu den Auflösungserscheinungen. Die fressen das Seelische wie das Körperliche, bis der Mensch seiner Substanz beraubt scheint, als moralisches Monster oder leere Hülle. Der Romantitel ist konkret gemeint: Ein Mann wird beim Einzug der Amerikaner in Rom durch einen Panzer überrollt und zum "Teppich aus menschlicher Haut". Er hat zudem eine symbolische Dimension: "Es hat mit der modernen Zivilisation zu tun, dieser Zivilisation ohne Gott, die die Menschen dazu bringt, die eigene Haut so wichtig zu nehmen."
Das ist der Kern der Klage, die weit über den Weltkrieg hinausgeht. Malaparte trauert über eine rein materialistische Welt, die der Auflösung anheimgegeben ist. Genau das tut sie - die Verwesung kontaminiert alles, sogar die ferne Natur: "Der Himmel war grau, als wäre er aus schmutzigem Papier, von Schimmelflecken übersät." Florian Illies betont im Vorwort die bizarre Schönheit dieser Schilderungen, in denen das Meer als "ein ekelhaftes Reptil" auftritt, mit einer "schaurigen, grün-gelb gefleckten Haut überzogen".
Elsa Morante (1912 bis 1985) schlug einen radikal anderen Weg ein. Sie beschränkt sich in "La Storia" auf das, was Pierre Michon "winzige Leben" nennt, und schildert nüchtern deren Ärmlichkeit. Im Zentrum steht die Geschichte der verwitweten Grundschullehrerin Ida, die von einem Wehrmachtssoldaten vergewaltigt wird. Frucht des kläglichen Gewaltaktes ist Useppe (eine kindliche Verballhornung von Giuseppe), der, wie sich schließlich herausstellt, Epileptiker ist und mit sechs Jahren stirbt; berichtet wird das Familiengeschick zwischen Empfängnis und Tod (1941 bis 1947). Überschattet wird es von Spätfaschismus, Krieg, Fliegerangriffen sowie dem Mangel der Nachkriegszeit. Die historischen Etappen werden zu Anfang jedes der nach Jahren benannten Abschnitte durch Daten und Fakten resümiert und spiegeln sich in der Karriere von Nino, Idas legitimem Sohn: Er marschiert mit den Schwarzhemden, geht in den Widerstand, avanciert zum Schwarzmarkt-Gauner.
Wo Malaparte mit weitem Schwung Kingsize-Fresken malt, lässt Morante den Lebensraum der nur mit einem "unvermögenden, furchtsamen Gehirn" begabten Iduzza stetig schrumpfen - er beschränkt sich auf wenige Armenviertel Roms. Die Angst hat viele Quellen: Zum einen ist Ida nie recht erwachsen geworden, was vorzeitige Alterung nicht ausschließt; zum anderen hat sie jüdische Vorfahren und fürchtet die Deportation. Freiheit lernt Useppe vor allem dank Nino kennen, der ihn mit motorisierten Ausflügen, Hunden und Eis beglückt, bis er kurz vor seinem Halbbruder zu Tode kommt.
Morante schildert persönliche Etappen wie den Aufenthalt in einer Flüchtlingsunterkunft am römischen Stadtrand nach der Ausbombung. Hier wie sonst passiert wenig, der Reichtum liegt in Beschreibungen, der Interaktion zwischen Figuren, Unterhaltungen, Langszenen. Eine Fülle an Nebenfiguren zieht an Idas gesenktem Blick vorbei, so entsteht ein Panorama, aber ohne Totalansicht. Fast immer bleibt Distanz, etwa zu den "Tausend", einer neapolitanischen Großfamilie, mit der Ida und Useppe die Baracke teilen. Eine Ausnahme ist Davide, ein jüdischer Bourgeois, der weder Überleben noch Herkunft verkraftet; er sucht sein Heil in den Drogen. Die Figur, ambivalent wie viele weitere, verkörpert das Skandalöse von "La Storia", das nicht wie bei Malaparte in Tabubrüchen liegt, sondern im Pessimismus: Die Geschichte ist "ein groteskes, dementes Grand Guignol, eine Mülldeponie", wie Davide konstatiert - das steht quer zu Fortschrittsideen.
Useppe begegnet Davide mit unerschöpflicher Neugier. In mancher Hinsicht erinnert er an Italo Calvinos Pin oder Günter Grass' Oskar Matzerath: Das kranke Kind ist ganz Auge, nähert sich allem mit entwaffnender Naivität. Er wird zum Zeugen des Krieges und der Judendeportation: "Und als sie sich vorbeugte, um es anzuschauen, sah sie, dass es mit unbewegtem Gesicht den Zug anstarrte, den Mund halbgeöffnet, die Augen aufgerissen in unbeschreiblichem Grauen." Morante inszeniert einen unschuldigen Blick auf die Schrecken des Jahrhunderts: "In dem unendlichen Grauen seines Blicks lag auch eine Angst oder eher ein bestürztes Staunen; aber es war ein Staunen, das keine Erklärung verlangte."
Die Verlage Rowohlt und Wagenbach sind das Wagnis eingegangen, diese umfangreichen Darstellungen neu übersetzen zu lassen. Es hat sich gelohnt, frisch wirken beide. Frank Heibert aktualisiert das Vokabular Malapartes: Was in Hellmut Ludwigs Übersetzung von 1950 "umwenden" war, wird zu "umdrehen", der "männliche Sexus" zum "männlichen Geschlechtsteil", der "Christenmensch" schlicht "Christ". Andere Änderungen sind diskutabel: Wenn "il popolo italiano" nicht "das italienische Volk" heißt, sondern "die Italiener", klingt das zwar weniger anrüchig, opfert aber Konnotationen, die Ludwig bewahrt hatte.
Sind die Neuübersetzungen also mehr als Anpassung an heutige Usancen? Heibert jedenfalls überträgt nicht unbedingt genauer als Ludwig. Ein gewichtiges Beispiel ist die Szene, in der Flüchtende aus der Ferne betrachtet werden - eine beeindruckende Passage filmischen Schreibens. Im Original blickt "il nostro occhio" (unser Auge) auf irrende Wesen, "quasi ravvicinati e ingranditi da una forte lente" (wie von einer starken Linse herangezogen und vergrößert). Im Folgesatz führen die Verbformen die Einzahl des Auges fort: Es entsteht der Eindruck eines Kamerablicks. Ludwig gibt ihn treffend wieder, Heibert schwächt ihn: Er kassiert "herangezogen" (und damit die Zoom-Konnotation), aus einem Auge werden "unsere Augen"; in der Folge heißt es "Wir sahen". Sprich: Das technisch-registrierende Linsen-Auge banalisiert Heibert zu normalem menschlichen Sehen.
Im Nachwort ihrer Morante-Übersetzung benennen Maja Pflug und Klaudia Ruschkowksi ein Faktum und einen Anspruch: "Heute ist die Übersetzungspraxis philologischer geworden." Ihre Übertragung respektiere die Schachtelsätze des Originals. Zur Überprüfung ein weiteres Augen-Beispiel: Nino zeigt Useppe eine erbeutete Pistole. Hannelise Hinderberger übersetzte 1976: "Mit einemmal wurde sein Blick, der sonst immer so lebhaft war, sonderbar funkelnd und starr, leer von Bildern wie das Glas einer Linse." Pflug/Ruschkowski nun: "Auf einmal wurde sein sonst so lebhafter Blick starr und blitzend, leer von Bildern wie die gläserne Oberfläche einer Linse." Beide Übertragungen verwandeln Morantes "occhio" (Auge) metonymisch in "Blick" - wegen des Linsen-Vergleichs unpassend. Pflug/Ruschkowski streichen "strana" (Hinderberger: "sonderbar"), erfinden jedoch eine "Oberfläche"; Hinderbergers Relativeinschub respektiert Morantes Syntax eher. Während die Neuübersetzung dieses Satzes also nicht überzeugt, gelingt ihr das andernorts. Pflug/Ruschkowski kleiden Idas Furcht treffend in das Bild einer "physischen Präsenz": "als hätte sich hier in ihrem Zimmer ein Riese niedergelassen, der Useppe mit vielen Mündern und vielen Händen bedrohte". Hinderberger wich vom Wortlaut ab und verdoppelte "Ungeheuer".
Über Detailgenauigkeit hinaus: Neuübersetzungen sind mehr als (hoffentlich) bessere Wiedergaben. Sie sind Anzeichen für ein fortdauerndes oder neu erwachendes Interesse, für eine Auseinandersetzung. Bei Malaparte, den die deutsche Geisteswelt nicht geschont hat - Theodor Adorno: "Schund"; Gottfried Benn: "sehr übel" -, erfreut das doppelt. Als Anzeichen haben Übersetzungen eine intrinsische Berechtigung - besonders, wenn sie so zum Lesen einladen wie die hier besprochenen. NIKLAS BENDER
Curzio Malaparte: "Die Haut". Roman.
Aus dem Italienischen,
mit Nachwort und
Anmerkungen von Frank Heibert. Vorwort von
Florian Illies. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 528 S., geb., 34,- Euro.
Elsa Morante:
"La Storia". Roman.
Aus dem Italienischen
von Maja Pflug und
Klaudia Ruschkowski.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024. 770 S., geb.
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