Eine Spurensuche nach verschütteter deutscher Mentalität
Emma Erdling ist notorisch pleite. Nur dank der Unterstützung ihrer kinderlosen Großtante konnte sie sich als Privatdetektivin unter dem Pseudonym »Andreas von Erdling« im teuersten Viertel der Stadt selbstständig machen, auch wenn sie nie vorhatte, echte Fälle zu lösen. Stattdessen inszeniert sie ihr Leben als Soap einer knallharten, linksideologischen Ermittlerin in den sozialen Netzwerken, bis unvorhergesehene Ereignisse ihre gemütlich eingerichtete Existenz erschüttern und ein Shitstorm ihr virtuelles Dasein vernichtet. Doch schon tags darauf soll sie ihren ersten, wenngleich unlösbar scheinenden Auftrag übernehmen: Oskar Lafontaine sucht ihr Büro auf. Seine Frau sei entführt worden, von Außerirdischen, er wolle sie zurück, Geld spiele keine Rolle.
Die Suche nach der entführten Sahra Wagenknecht entpuppt sich bald als Reise in ein verdrängtes Bewusstsein, zu Teilen einer Identität, die Emma Erdling zu Beginn der Geschichte so fern war wie eine Galaxie jenseits der Milchstraße. Zugleich nimmt uns der Roman mit auf eine Odyssee zu den hellen und dunklen Mächten deutscher Geschichte, bis hinaus ins Weltall, alle Grenzen von Zeit und Raum mühelos überschreitend.
Besprechung vom 12.12.2023
Vom Treibstoff extraterrestrischer Geschichten
Hilfe, SahraWagenknecht ist von Außerirdischen entführt worden: Emma Braslavskys politischer Fantasy-Detektivroman "Erdling".
Es scheint nur logisch, sich auf eine Reise ins All zu begeben, wenn die Erde an Weltentwürfen so karg und öde erscheint wie dieser Tage. Die Sterne funkeln in dunklen Stunden umso heller; als wollten sie uns sagen, dass es noch etwas anderes geben muss als unsere triste irdische Existenz. Das dachte sich auch Sahra Wagenknecht. Die verließ kurzerhand die Realpolitik, um die Weltallpolitik zu studieren. Ja, Sie haben richtig gehört: Sahra Wagenknecht, die abtrünnige Linken-Politikerin, die doch momentan eigentlich ihre Parteigründung vorbereiten müsste. Was zur Hölle hat sie also im All verloren?
Weiterhelfen bei dieser Frage kann der neue Roman von Emma Braslavsky: "Erdling". Die vorherigen Romane der Schriftstellerin waren wunderlich komplexe Gebilde, die mit sprachlicher Leichtigkeit komponiert sind. Nun hat sie einen "Heimatroman der fantastischen Art" geschrieben, wie der Suhrkamp Verlag ankündigt. Tatsächlich erfahren wir auf einer rasanten vierhundertseitigen langen Reise in die intergalaktische Fremde mehr über uns, als uns manchmal lieb ist. Der feinsinnige Humor der Autorin lässt indes auch die garstigste Selbsterkenntnis zu.
Beginnen wir aber vorne. Emma Andreas Erdling, die manchmal Emma, manchmal Andreas ist, betreibt mit monetärer Unterstützung ihrer vereinsamten Großtante ein gnadenlos erfolgloses Detektivbüro. Das kümmert sie aber wenig. In sozialen Netzwerken entwirft sie sich mit hochstaplerischer Virtuosität umso erfolgreicher als linke (böse Zungen würden behaupten: woke) Ermittlerfigur, die in "stabilen Gut-Böse-Achsen" immer auf der richtigen Seite steht. Zur Kunst der Vortäuschung gehört es, dass wir nicht erfahren, was nun richtig und was falsch, was links und was rechts ist. Als ein Shitstorm wegen unbeabsichtigtem Blackfacing ihre virtuelle Existenz zerstört, gerät Erdlings Realität ins Wanken. Genauer gesagt, Emma Andreas wird mit vielen Realitäten konfrontiert.
Anstatt auf den festen Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden, expandieren und wuchern die Fiktionen in ihre Lebensrealität. Sie nimmt im Antiquariat ihres Freundes Cosmo zwischen den vollgestopften Bücherregalen eine falsche Abbiegung und landet auf einer anderen Realitätsspur: im Jahr 1844, bei Karl Marx. Doch der sitzt nicht in Paris am Schreibtisch, um die Entfremdung des Menschen von sich selbst aufs Papier zu bringen. Nein, er hält eine plebejische antisemitische Brandrede. Dieser Schock sitzt. Marx wird für Emma Andreas zum Alien, zu einem Fremden, der ihr den Spiegel der Selbstentfremdung vorhält.
Wenig später kommt ein aufgelöster Oskar Lafontaine in ihr Büro. Seine Lebensgefährtin Sahra sei von Außerirdischen entführt wurden - Emma Andreas' erster richtiger Fall, der sie auf eine interstellare Spurensuche führt. Sahra bleibt auf dieser Reise durch das All bis zum Ende des Romans eine amorphe, nicht greifbare Gestalt. Was stattdessen mehr und mehr an Kontur gewinnt, ist ein grandioser epistemischer Weltentwurf in Romanform, der uns vorführt, das nicht alles so trist und öde bleiben muss, wie es ist.
Nach einer Begegnung mit der übernatürlichen Vril-Geheimgesellschaft, die, ausgehend von dem Science-Fiction-Roman "The Coming Race" (1871) des viktorianischen Autors Edward Bulwer- Lytton, mittlerweile eine der abstrusesten Nazi-Verschwörungstheorien ist, beruhigt die kinky anmutende Reisebegleiterin Angelika die sichtlich verstörte Emma Andreas mit den Worten: "Du bist immer im richtigen Film, Erdling, du hast keine Ahnung, wie veränderlich deine Welt sein kann, du bist nur auf einer anderen der möglichen Spuren gelandet. Und nun veränderst du dich und deine Beziehungen. Und deine Welt sieht plötzlich anders aus. Und du jetzt auch."
Die Realität ist nicht mehr als eine Spur, auf der wir uns bewegen. Wechseln wir sie, so ist sie eine andere und sind wir andere Menschen. Mit diesem radikalen Perspektivismus, den die Autorin der Allgemeinen Semantik des polnisch-amerikanischen Autors Alfred Korzybski entlehnt, eröffnet der Roman uns einen unendlich großen Möglichkeitsraum. Er konfrontiert uns mit narrativen Realitäten, die unsere Landkarte der Wirklichkeit um unentdeckte Territorien erweitert. Die aus den verstaubten Bücherregalen hervorgezogenen Science-Fiction-Geschichten unterlaufen im Roman die festschreibende Prädikation "ist" durch immer neue Alternativen und Entwürfe.
Emma Andreas macht sich auf eine lange Reise in phantastische Erzählwelten, um Sahra zu finden. Die studiert mit der orthodoxen Beflissenheit, wie sie nur einer deutschen Kommunistin zu eigen sein kann, extraterrestrische Gesellschaftsentwürfe im All. Ebenso wie der Protagonistin manches Mal der Boden unter den Füßen weggezogen wird, geht es auch der Leserin. Bei den Reisen von der Venus zum Mars, vom Mond zur Erde wird einem bisweilen schwindelig. Da wirkt die ausgestreckte Hand der Reisebegleiterin Angelika wie eine die Schwerelosigkeit lindernde Zentrifugalkraft, die uns zu sagen scheint: Auch wenn ihr Deutschen verhegelt und vergeistigt seid, schaut doch mal in den Himmel und staunt. Und tatsächlich erscheinen die fremden Planeten uns umso unergründlicher, je mehr wir uns mit ihnen beschäftigen, wie der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn in seiner "Einführung in die außerirdische Literatur" (2022) nahegelegt hat.
Denn dann reibt man sich verblüfft die Augen und sieht, dass der uns aus heutiger Sicht so rational erscheinende deutsche Denkraum einst von Kolonien Außerirdischer bevölkert war. Der Treibstoff extraterrestrischer Geschichten geht der Autorin wahrlich nicht aus. Wir, die unzivilisierten Erdbewohner, begegnen auf der Reise von Emma Andreas den freiheitlichen und feinsinnigen Numen in Kurd Laßwitz' "Auf zwei Planeten" (1897). Und wir besuchen die Drom-Menschen in Fritz Brehmers "Nebel der Andromeda" (1920), deren gemeinschaftliche Assoziation "freier-assoziativer Denkmuster" einen kognitiven Kommunismus entwirft. Die zahlreichen fernen Galaxien, von denen hier nur diese beiden stellvertretend genannt sein sollen, skizzieren eine Mentalitätsgeschichte des "German Genius" (2010). Das ist ein Buch des Kulturhistorikers Peter Watson, das Emma Andreas zur Lektüre empfohlen wird.
Gleichzeitig ist Braslavskys Roman, den seine Autorin in der Danksagung augenzwinkernd als "narratives Kulturdenkmal" bezeichnet, ein erschreckendes Archiv des politisch Unbewussten der Zwanziger- und Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Aufklärung und Esoterik, Sozialismus und Faschismus, Deutschnationalismus und Zionismus liegen in den narrativen Weltentwürfen derart nah beieinander, das man die Widersprüche kaum aushalten kann. Veranschaulicht wird dies an einem zeitweiligen Reisebegleiter von Emma Andreas, dem deutschen Autor Hanns Heinz Ewers, der derart lustvoll mit Drastik und Provokation spielt, dass er nur schwer zu ertragen ist. Er prangerte die deutsche Prüderie und Bigotterie an, hasste aber die demokratische Weimarer Republik; und er setzte sich für die Gleichberechtigung der Juden ein, wurde aber 1931 Mitglied der NSDAP. Ewers zeigt uns, wie schnell man auf eine verhängnisvolle Realitätsspur geraten kann.
Was ist nun aber mit Sahra Wagenknecht? Will sie überhaupt zurückkehren ins beschauliche saarländische Merzig zu ihrem Oskar, wo die Weltentwürfe im All so schillernd kosmopolitisch sind? Der Leserin wird wie Emma Andreas schnell klar: Wir sollen nicht Sahra, sondern uns selbst im Weltall finden. Sie ist unser politisches "paradoxes Ich", in dem Fortschritt und Regression unentwirrbar miteinander verflochten sind. Also: Erdling, bitte nicht falsch abbiegen! CAROLIN AMLINGER
Emma Braslavsky:
"Erdling". Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
425 S., geb.
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