Das Porträt einer Kleinstadt, in der Andersartigkeit per se verdächtig ist
Gunthrum, Nebraska, 1985. Es ist das erste Wochenende der Jagdsaison, und der geistig beeinträchtigte Hal, Landarbeiter auf der Farm von Alma und Clyle und gewissermaßen ihr Adoptivsohn, geht mit Freunden jagen. Am selben Wochenende verschwindet ein junges Mädchen aus dem Ort spurlos. Als Hal von seinem Ausflug zurückkehrt, sind Blut im Truck und eine Delle am Kühlergrill, und Hals Erklärungen lassen zu wünschen übrig. Schon bald beginnt man in Gunthrum zu spekulieren. Und nach und nach wird für Alma und Clyle die Frage, wozu Hal fähig sein könnte, immer dringlicher - denn wer sonst sollte an diesem Verbrechen schuld sein?
Besprechung vom 05.06.2023
Polizeiarbeit geht nicht ohne Gefühle
Falsche Fährten in Nebraska: Erin Flanagans beeindruckendes Debüt "Dunkelzeit"
Stellen Sie sich einen Pferch voller Ferkel vor. Sehen Sie rosa Niedlichkeit auf vier Beinen oder sehen Sie Antibiotikaspritzen, kupierte Ringelschwänze und Schlachtungen? Salami? Es ist alles eine Frage der Sichtweise. So verhält es sich mit Ferkeln, so verhält es sich mit der Landwirtschaft - im vorliegenden Buch sagt jemand über sie: "Du wirst nie fertig. Alles hängt davon ab, wie du das findest." Und so verhält es sich überhaupt mit dem Leben im Örtchen Gunthrum, Nebraska, wo Mitte der Achtzigerjahre die sechzehnjährige Peggy verschwindet.
Der besondere Dreh von Erin Flanagans mit einem Edgar-Award ausgezeichneten Debütkrimi "Dunkelzeit" sind die drei konträren Sichtweisen auf den Fall und den Ort seines Geschehens. Milo ist Peggys jüngerer Bruder, der sich nach nichts mehr sehnt als endlich aus diesem Kaff zu verschwinden. Der Farmer Clyle hat sich nach seinen Studienjahren in Chicago bewusst entschieden, in die Heimat zurückzukehren. Zuletzt seine Frau Alma; ihrer Stimme kommt die größte Aufmerksamkeit zu, der gebürtigen Großstadtpflanze, die nicht nur wegen ihrer Herkunft in Gunthrum eine Außenseiterin bleibt, sondern auch, weil sie keine Kinder geboren hat, stets ihr Herz auf der Zunge trägt und selbst im Partykeller meist die Finger vom Alkohol lässt.
Flanagan jongliert die drei Perspektiven mühelos, elegant ineinander übergehend, und findet dabei auch Verbindendes zwischen den Erzählern: Sie sind intelligente Beobachter, Analytiker und halten sich mit ihren Urteilen nicht zurück, was sie nicht immer zu Sympathieträgern macht. Und - auch das hebt sie von der Dorfgemeinschaft ab - sie zweifeln als einzige daran, dass Hal an Peggys Verschwinden die Schuld tragen soll. Hal, der Farmhelfer, der nach einem Schwimmunfall in seiner Kindheit geistig beeinträchtigt ist und ausgerechnet am entscheidenden Wochenende nach seinem Jagdausflug einen blutverschmierten Truck in die Garage fuhr.
Der Titel "Dunkelzeit" ist zwar nicht unzutreffend, aber das englischsprachige Original ist präzisier: "Deer Season". Hirschsaison, eine Zeit der Jagd auf und des Sterbens von etwas Reinem, Unschuldigem. Aber auch Unschuld ist letztlich eine Frage der Sichtweise, und wenn sich die guten Leute von Gunthrum auf eine Sache einigen können, dann darauf, dass es für jede Katastrophe eine Frau zur Rechenschaft zu ziehen gibt. Hals Behinderung? Die Schuld der ihre Aufsichtspflicht verletzenden Mutter. Peggys Verschwinden? Erst möglich, weil ihre Mutter unbedingt wieder arbeiten wollte. Der Mann geht fremd? Kein Wunder, seine Frau ist so schwierig geworden. Und überhaupt ist es geradezu ein Wunder, dass nicht noch viel mehr Mädchen verschwinden, so wie die immer rumlaufen.
Die meisten Frauen in Gunthrum arbeiten zugegeben tatkräftig daran mit, die Illusion aufrechtzuerhalten. Hier herrschen traditionelle, von strengem Protestantismus geprägte Rollenbilder, die sich schon in ihrem Selbstverständnis angegriffen fühlen, wenn Männer nur Zucker in ihren Kaffee schütten oder andere Farben tragen als Marineblau und Schwarz. "Dunkelzeit" zu lesen - übrigens das Werk einer Insiderin: Flanagan stammt aus einer Kleinstadt in Iowa, dementsprechend fern liegt es ihr, das Landleben zu romantisieren, lässt einen ehrliche Dankbarkeit für die Fortschritte der letzten Jahrzehnte empfinden.
Nur wirklich besser fühlt man sich dadurch nicht. Dafür ist die Geschichte viel zu bitter, im Kern beschreibt die Autorin schließlich ein Szenario, das genauso gut ins Jahr 2023 passt: Ein junges Mädchen verschwindet, aber bleibt doch nur eine Art McGuffin, der emotionale Auslöser für die privaten Dramen aller anderen.
Flanagan holt weit aus, um den Kontext zu etablieren, der erklärt, welche ihrer Figuren warum wie denkt und handelt. Sie entwirft ein Melodrama von den Dimensionen eines Douglas-Sirk-Films aus den Fünfzigerjahren in strahlendem Technicolor: Ehen, denen über Jahre die Liebe abhanden gekommen ist, unerfüllte Kinderwünsche, körperliche und seelische Gebrechen, Unfähigkeit zur Kommunikation, geschweige denn zum verantwortungsbewussten Umgang mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Dazu ein Schuss Seifenoper, Affären und Verrat, ein fundamentales Leiden an den sich selbst so schrecklich eng gesteckten Lebensbahnen.
Wie das verdächtige Blut an Hals Truck führt "Dunkelzeit" mit seinem Ausblick auf ein klassisches Whodunit auf eine falsche Fährte, nur um seine Leser zur Auseinandersetzung mit viel furchterregenderen, weil persönlichen Dämonen zu zwingen. Stellt sich die unausweichliche Frage: Ist das noch ein Krimi? Dem Dorfpolizisten Peck legt Erin Flanagan einen Ausspruch in den Mund, der sich liest wie eine indirekte Erwiderung an alle potentiellen Skeptiker: "Die Leute meinen immer, Gefühle dürften in der Polizeiarbeit keine Rolle spielen, aber das ist falsch. Das ist in Etwa so, wie wenn man Kinder großzieht - man versucht, seine Gefühle dazu zu verwenden, das Richtige zu tun, während man sich innerhalb der Regeln bewegt, die man aufgestellt hat."
Erin Flanagans selbstgesteckte Regeln machen "Dunkelzeit" zu einem ausgezeichneten Kriminalroman, literarisch zupackend und emotional hochintelligent. KATRIN DOERKSEN
Erin Flanagan: "Dunkelzeit". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer.
Atrium Verlag, Zürich 2023. 400 S., geb.
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