Besprechung vom 04.03.2024
Die genüssliche Belehrung in der Via Merulana
Sag mir, welche Sätze du weglässt, und ich sage dir, welches Buch du liest: Fabio Stassi schickt einen Bibliotherapeuten quer durch die Weltliteratur - und erzählt einen kriminalistischen Ausnahmefall.
Kein Mord, keine Polizei und doch ein Fall, in dem ermittelt wird: Vince Corso, Mittvierziger, von der Freundin verlassen, als Gymnasiallehrer ausgestiegen, lebt als Bibliotherapeut der Via Merulana, bekannt aus dem italienischen Krimiklassiker von Carlo Emilio Gadda. Corso empfängt in seiner temporär angemieteten Dachwohnung, einer umgebauten Waschküche, seine Patienten, denen er nach eingehender therapeutischer Beratung Bücher zur Lektüre empfiehlt, die ihren seelischen Haushalt ins Gleichgewicht bringen sollen. So viel zum Berufsbild des Bibliotherapeuten.
Der Roman hat erkennbar Wurzeln im Arbeitsgebiet des Autors. Fabio Stassi, 1962 in Rom als Spross einer Arbëresh-Familie, einer albanischstämmigen Minderheit Süditaliens und Siziliens, geboren, lebt in Viterbo und arbeitet in der Bibliothek der Orientalisten an der römischen Universität La Sapienza. Die Zeit im Pendelzug nutzt er zum Schreiben. Mit einem Dutzend Romanen, Erzählungen, Kinderbüchern und vielen Liedtexten für bekannte Sänger ist er in Italien ein mit diversen Preisen ausgezeichneter Autor. Ins Deutsche schafft er es nur dann und wann, seinen vor sechs Jahren erschienenen Roman hat die Edition Converso, Monika Lustigs Karlsruher Ein-Frau-Verlag mit bibliophiler Neigung, der bewährten Annette Kopetzki zur Übersetzung anvertraut. Eine attraktive Dame um die sechzig, in schwarzem Hosenanzug, die sich als Giovanna Baldini vorstellt, beauftragt Corso mit einer Ermittlung. Ihr Bruder, ein eminenter Bibliophiler, ist mit der Diagnose Alzheimer in ein Heim gebracht worden. Er hat als eine Art Testament wenige Sätze hinterlassen, die offenbar Passagen aus einem Roman zitieren. So als würde man den Großteil des Textes mit schwarzen Balken unleserlich machen.
Corso soll diesen Roman aufspüren, um das Rätsel zu lösen. Der Satz "Scheiße, ich sage 28 an!" führt auf die Spur eines südamerikanischen Kartenspieles namens Truco. Die Spur wird heißer, als der Bibliotherapeut den dementen Büchersammler auf eigene Faust im Pflegeheim besucht. Dass Corso es tatsächlich schafft, diesen Roman - "Una sombra ya pronto serás" (1996, Deutsch: Schon bald wirst du ein Schatten sein), er stammt von dem im französischen Exil gestorbenen argentinischen Autor Osvaldo Soriano - zu finden, ist erst die halbe Miete. Die Ermittlung wird ihn bis in die geheimnisvolle, äußerst planvoll strukturierte Bibliothek des Demenzkranken führen. Da weiß er dann auch, dass die Schwester die Untersuchung nicht aus reiner Nächstenliebe anstrengt, sondern weil ihr Bruder angeblich sein Haus und sieben Millionen Euro hinterlassen wird - über deren Aufbewahrungsort aber nichts bekannt ist.
Stassi nimmt uns mit auf Vince Corsos Spaziergänge durch Rom. Begleitet von dessen stummem Hund Django flanieren wir durch das Monti-Viertel, bewundern den Kreuzgang des Ospedale Nuovo Regina Margherita in Trastevere, besuchen seine Lieblingsbuchhandlung, knattern mit dem Roller über die Via Cavour und werden bei einer Demonstration von Immigranten vor der Stazione Termini von der Polizei verletzt.
Corsos Begegnungen mit Menschen haben stets etwas Erratisches, so als lebe er in seiner völlig eigenen Welt. Eine chinesische Studentin, die an Nomophobie, also an Handyverlustangst, leidet, gibt ihm Rätsel der Verführung auf, indem ausgerechnet sie sich weigert, ihm ihre Telefonnummer zu geben. Seine Kundschaft ist maximal skurril, darunter eine Schriftstellerin, die Dutzende Romane geschrieben, aber keinen veröffentlicht hat, und die dem Bücherheiler eine demütigende Lektion erteilt. Und über allem schwebt eine spezielle Melancholie, wie sie sich im verregneten Rom auf die Seele legen kann.
Das gefällt besonders Lesern von Literatur und Lyrik, weniger reinen Genre-Verbrauchern: Calvino, Ungaretti, John Edward Williams und Raymond Carver sind Säulenheilige von Stassi. Sein Protagonist ist ebenso wie er in der Weltliteratur bewandert, führt Notizbücher mit Motiv- und Plotvergleichen, und am Ende wartet eine Lektüreliste, in der Sorianos Roman gleich zweimal auftaucht.
Ein traumwandlerisches Buch über Bücher, über Vergessen und Sprache. Im abschließenden Gespräch mit der großen Unbekannten, die über den Schlüssel zur Lösung des Baldini-Falles verfügt, geht es auch um das Verb "erinnern" und dessen lateinische Wurzel "re-cordis", die, wie ihn die Dame unterrichtet, wortwörtlich bedeute "auf Seiten des Herzens überprüfen". In Vince Corso löst das ein existenzielles Seufzen aus, wie es nur echten Poeten entschlüpft: "Ich dachte an die unverzeihliche Nachlässigkeit, mit der wir Wörter prüfen." HANNES HINTERMEIER
Fabio Stassi: "Die Seele aller Zufälle". Detektivroman.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Edition Converso, Karlsruhe 2024. 284 S., geb.
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