»Fatima Daas liefert den literarischen Ausbruch aus einer Welt, die Queers mit Schuld und Scham bestraft. Und sie erzählt ihre Geschichte so klar, so poetisch und so furchtlos, dass es schwerfällt, das Buch nicht in einem Zug wegzuatmen. « Hengameh Yaghoobifarah
Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer heiligen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den ich ehren muss.
Fatima ist das Kind, auf das keiner mehr gewartet hat, die Nachzüglerin, die einzige Tochter, die in Frankreich und nicht in Algerien zur Welt gekommen ist. Sie wächst mit ihren Schwestern in der berüchtigten Banlieue Clichy auf. Liebe und Sexualität sind in ihrer Familie ein Tabu. In der Schule ist Fatima unangepasst, laut und voller Wissensdurst. Sie hängt am liebsten mit den Jungs herum und fühlt sich falsch in ihrer Haut. Bis sie Nina trifft und ihre eigenen Gefühle für sie erkennt. Doch eine Frau zu lieben, bringt sie nicht nur in Konflikt mit ihrer Familie, ihrem Glauben, sondern auch mit sich selbst.
Atemlos und ungeheuer sprachgewaltig zeigt Fatima Daas mit ihrem vielbeachteten Debüt, dass man sich nicht entscheiden muss und dass die Zerrissenheit der eigenen Identität kein Makel ist. Eine beeindruckende Geschichte weiblicher Selbstermächtigung - dieser Roman ist ein Befreiungsschlag!
»Das erstaunlichste, sanftmütigste und rockigste, herausragendste und dringlichste internationale Buch in deutscher Sprache des Jahres. « Laudatio von Dominique Haensell und Annika Reich
Besprechung vom 27.06.2021
Das Gefühl nach der Wut
Fatima Daas und ihr faszinierend quälender Roman über lesbische Liebe einer Muslimin in der Banlieue
Die Frau, mit der ich zum Interview verabredet bin, heißt nicht Fatima Daas. Fatima Daas ist ein Pseudonym, der Name einer Kunstfigur, die einen Roman geschrieben hat, in dem es um genau diese Fatima geht. Also beginnt unser Gespräch mit einem Paradox. Wie unterhält man sich mit einer Kunstfigur über ihren autofiktionalen Text? Diese Ambivalenz ist, wie sich zeigen wird, nur die erste Stufe. Daas' Buch "Die jüngste Tochter" ist eine autofiktionale Erzählung über das Aushalten von Ambivalenzen, ein Buch, das fasziniert und quält. Eine Geschichte, hieß es nach der Veröffentlichung des Originals 2020 in Frankreich, die so noch nie da gewesen sei. "Sprechen Sie mich als Fatima Daas an, ich bin in den letzten Monaten mehr und mehr sie geworden. Ich musste in ihrer Haut wiedergeboren werden, um diesen Roman schreiben zu können. Das ist doch das Erstaunliche: Ich kann auf eine sehr intime, private Art 'Ich' sagen, ohne dass dieses Ich der Wahrheit entspricht."
Wollte man eine Hierarchie der Marginalisierungseinheiten vorlegen, was keine gute Idee ist, stünde Daas weit oben. Praktizierende Muslima, als Kind algerischer Eltern im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois aufgewachsen, mit Wucht in das sektiererische französische Bildungssystem geworfen, homosexuell mit einem Hang zur Polyamorie. Fatima, die Protagonistin, liebt die unerreichbare Nina, aber auch Cassandra und Gabrielle. "Ich finde bei der einen, was der anderen fehlt, ohne zu wissen, was das ist", heißt es im Roman. Sie liebt sie im Geheimen, denn ihren Eltern ist zwar nicht entgangen, dass Fatima sich weder mit den mitgebrachten Kleidern noch mit dem vorgelebten Ideal, möglichst jung eine verheiratete Mutter zu werden, arrangieren kann. Ein Gespräch darüber gibt es aber nicht. Zwischen Clichy-sous-Bois und dem Pariser Nachtclub La Java, in dem einst Edith Piaf auftrat und heute Queers auf Mottopartys schunkeln, liegen mehr als die fünfzehn Kilometer Luftlinie. Die täglichen Fahrten mit Bus und Bahn an die Pariser Uni dauern drei ermüdende Stunden. Dort angekommen, verkehrt sich das Schweigen in die andere Richtung. In den Bars, die Fatima mit ihren Liebhaberinnen besucht, ist ihr Glaube ein Tabu. "Ich will mit diesem Feminismus nichts zu tun haben", sagt Daas. "Ein Feminismus, der es sich so leicht macht und etwa das Kopftuch auf ein Unterdrückungsinstrument reduziert. Der zeitgenössische französische Feminismus basiert auf zu vielen dieser Reduktionen. Diese schwarz-weiße Welt sagt mir nicht zu."
Suburbia-Tristesse, Religion und Sexualität, diese Aspekte kennt man aus der französischen Literatur. Annie Ernaux und Didier Eribon beschreiben das in Frankreich zugespitzte Stadt-Land-Gefälle und vermengen es mit Klassenfragen. Leïla Slimani veröffentlichte ein Buch über das geheime Sexleben muslimischer Frauen. Mahir Guvens Banlieue-Roman erhielt vor einigen Jahren die höchste französische Literaturauszeichnung, den Prix Goncourt. "Die jüngste Tochter" mag in einer Tradition dieser Geschichten stehen, ist aber weder der Bericht über eine sexuelle noch über eine religiöse Suche. Hier geht es um alle Facetten einer Identität, beschrieben von einer Erzählerin, die nicht kühl von außen seziert, mit soziologischem Vokabular auf Abstand geht. Die Erzählerin Fatima schwimmt sich nicht frei, stattdessen gräbt sie sich immer tiefer in die Schichten dessen, was sie ausmacht. Fatima ist, wie es nicht umsonst aus allen Ecken der jüngeren Gegenwartsliteratur von Joshua Groß bis Lisa Krusche tönt, weitestgehend "involviert". Der Modus dabei ist nicht lamentierend, aber leidend. Mit jeder Schicht taucht eine weitere Unvereinbarkeit von Existenzweisen auf, die Unmöglichkeit einer stringenten Identitätserzählung. Wie im Katholizismus, so hat Daas in einem Gespräch mit dem Radiosender France Culture gesagt, gebe es im Islam ein Problem mit Homosexualität, eine grundlegende Überzeugung, dass es sich um eine nicht gottgewollte Form des Liebens handele. Daas negiert dieses Problem nicht, sie akzeptiert es: "Ich habe nicht die Intention, den Islam zu reformieren, wer bin ich, zu bestimmen, dass es keine Sünde ist? Also ist Homosexualität auch für mich Sünde." Eine Aussage, vielleicht lapidar dahin esprochen, die Daas viel öffentliche Kritik eingebracht hat. Wie sollte sie auch nicht.
"Warum werde ich ständig zu meiner Haltung zum Islam befragt? Ich bin keine Theologin, ich spreche für meine Protagonistin, für Fatima. In meinem Roman geht es nicht um Homosexualität im Islam. Es geht um eine Frau, die andere Frauen, aber auch ihren Gott liebt und dafür Selbsthass empfindet und diesen am Ende vielleicht überwinden kann." In dieser Aporie des Daseins blitzt eine Gegenwartsfrage auf: Wie viel Raum für Individualität lassen gruppenspezifische Zuschreibungen? Darf Fatima Daas von sich als lesbischer Muslima sprechen, ohne für eine Community zu stehen? Die Roman-Fatima zieht sich zurück aus der Gemeinschaft, beginnt zu schreiben und verlässt am Ende sogar Nina. Vielleicht steht sie dadurch mit dem Rücken zu unserer Zeit, in der die Identitätsthematik das Zeug zum Salongespräch hat. Das ist aber eher ein zärtliches Anlehnen als eine Abwendung. "Es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben", sagt die Erzählerin.
Die Sprache des Romans ist rhythmisch, getragen von kurzen, spitzen Sätzen, überflüssige Informationen oder Beschreibungen sind gestrichen. Jedes Kapitel beginnt mit den Worten "Ich heiße Fatima" und dem Versuch, dem Namen ein Fundament zu geben. Einmal heißt es im Anschluss "Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht 'beschmutzen' darf, wie man bei uns sagt." Ein anderes Mal: "Ich heiße Fatima Daas. Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Sünderin." Dieser repetitive, nahezu mantraförmige Monolog wurde mit Koransuren verglichen. Im Koran aber sagt niemand so häufig "Ich". Viel treffender ist ein musikalischer Vergleich: mit dem Rap. Lil Wayne, den Daas zitiert, rappt in "Blunt Blowin" "ich trage einiges Gewicht auf meinen Schultern, für mich fühlt es sich wie Federn an". Gewicht in Federn, oder, wie Beyoncé singt, Zitronen in Limonade zu verwandeln, und zwar mittels einer Mischung aus Selbstexponierung und Selbstfiktionalisierung, ist das stilistische Spiel des Rap. Fatima Daas überführt es in literarische Sprache, kombiniert den französischen Soziolekt Argot mit arabischer Phonetik, erzählt antilinear und fragmentiert. Dabei ist die selbstverliebte Pose des Rap stark reduziert und blitzt nur in Fatimas emotionalem Blick auf die Gemeinschaft der verachteten Vorstädter, den "Chlichoisen", auf.
Nach dem überraschenden Erfolg ihres Buches hat sich Fatima Daas, obwohl sie es könnte, keine Wohnung in Paris genommen. Sie wohnt noch immer in Clichy-sous-Bois, das für die meisten Franzosen unweigerlich mit den schwersten sozialen Unruhen Frankreichs seit dem Algerien-Krieg verknüpft ist. 2005 kamen dort zwei Jugendliche bei der Flucht vor der Polizei ums Leben. Wochenlang brannten Autos und Läden, erst in der Vorstadt, dann in den großen Städten, gefordert wurde ein Ende der hohen Jugendarbeitslosigkeit in der französischen Peripherie. "Wut kann ein Motiv der Literatur sein, aber man darf da nicht stehenbleiben. Mich interessiert das Gefühl, das nach der Wut einsetzt", sagt Daas. Man spürt, dass es ihr nicht darum geht, eine Mauer einzuziehen, auch wenn sie im Gespräch mehr als einmal auf die, wie sie sagt, islamophobe französische Gesellschaft zu sprechen kommt. "Letztlich sind wir alle Fatima. Jeder von uns hat sich doch schon gefragt, wo stehe ich gerade im Leben, wie viel familiären Einfluss lasse ich zu. Ich habe das Buch für alle geschrieben, ob 25 oder 65 Jahre alt, aus Nordafrika oder nicht." Aber wird die Erzählung auch in Deutschland verstanden werden? Immerhin ist der Roman in der Übersetzung von Sina de Malafosse gerade für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt nominiert. Die Chancen, dass Daas den symbolträchtigen Preis bekommt, sind nicht schlecht. Sie stünde dann in einer Reihe mit Amos Oz und Teju Cole. "In Frankreich wurde mein Buch so gelesen, als ginge es nur um den Islam. Hoffentlich passiert das nicht auch in anderen Ländern. Ich wünsche mir, dass man sich mehr mit der Liebe in meinem Buch beschäftigt", sagt Daas.
Während wir sprechen, ist es dunkel geworden. Fatima Daas ist nur dann vollständig auf dem Bildschirm zu erkennen, wenn sie an ihrer Zigarette zieht. Ich hätte gern einen Blick in ihre Wohnung geworfen, vielleicht das Bücherregal inspiziert. Stattdessen spricht Daas in ihrem Auto mit mir, irgendwo auf einem Parkplatz zwischen Paris und Clichy. Vielleicht ist es Inszenierung, vielleicht Zufall, aber dieser betonierte Unort suburbaner Mobilität steht ihr. Und erst hinterher fällt mir der Fehler auf. Die Kunstfigur Fatima besitzt kein Auto. Schließlich fährt sie täglich drei Stunden mit dem öffentlichen Nahverkehr. Hat sich hier für einen Moment die Person hinter dem Pseudonym gezeigt?
Es liegt viel Vagheit in Daas' Aussagen, die Motive ihres Buches münden nicht in gut klingenden Thesen, sondern in einer Feier des Ambivalenten als Lebensmodus. "Du hattest viele Momente, die nicht ewig währten. Jetzt sitzt Du in einer Ecke und versuchst neu zusammenzusetzen, wie man liebt" ist die Punchline von Daas' Lieblingslied "How to love" von Lil Wayne. Fatima Daas hat eine literarische Stimme dafür gefunden, wie es sich anfühlen könnte, in einer Ecke mit den schiefgelaufenen Momenten des Lebens zu überlegen, wie das geht mit der Liebe. MIRYAM SCHELLBACH.
Fatima Daas: "Die jüngste Tochter". Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Claassen, 192 Seiten
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