Ein achtjähriger Junge wird von seinen Eltern zu Verwandten gesckickt, sie selbst können ihn nicht mehr ernähren. In San Sebastián erwartet ihn eine typisch baskische Familie der sechziger Jahre: Die Tante hat das Sagen, ihr Mann kriegt den Mund nicht auf. Die Cousine und der Cousin suchen auf verschiedene Weisen neue Freiheiten, von denen die Eltern nichts wissen. Der Junge beobachtet mit den staunenden Augen eines Kindes, wie mühevoll es ist, seinen eigenen Weg zu finden. Doch als er seine Chance bekommt, nutzt er sie.
In "Langsame Jahre" wird beschrieben, wie die Geschehnisse, die in Aramburus Erfolgsroman "Patria" einzelne Familien und schließlich das ganze Land auseinanderbrechen lassen, ihren Anfang nehmen.
Besprechung vom 17.07.2019
Nach dem Kurzschluss
Fernando Aramburu erzählt aus der Frühzeit der Eta
"Langsame Jahre", der Roman von Fernando Aramburu, der soeben in der Übersetzung von Willi Zurbrüggen auf Deutsch erschienen ist, hat die Anmutung eines Kammerspiels. Kaum je verlässt der Erzählstrang die Räumlichkeiten der Familie in San Sebastián. Und doch ist die Prosa so dicht und als Vexierspiel so komplex angelegt, dass der schmale Roman, der im Original bereits 2012 erschienen ist, viel mehr ist als eine Vorstudie zu Aramburus gefeiertem Großroman "Patria" von 2016. Auch "Langsame Jahre" umkreist den baskischen Befreiungskampf der Eta. Die "Euskadi Ta Askatasuna", zu Deutsch "Baskenland und Freiheit", wie sich die separatistische Untergrundorganisation bis zu ihrer Selbstauflösung 2018 nannte, hatte sich 1959 im Widerstand gegen Franco gegründet und den Terror als Mittel zur Durchsetzung der erstrebten Loslösung von Spanien gewählt. Ihren ersten Mord verübte sie 1960 - und in den sechziger Jahren siedelt Aramburu seine Geschichte an.
"Langsame Jahre" erzählt einerseits von einem achtjährigen Jungen, dessen Mutter so arm ist, dass sie ihn in die Obhut von Verwandten in der Stadt geben muss. So brüsk der ältere Cousin Julen sich anfangs gegenüber dem neuen Familienmitglied aufspielt, so vertraut wird die Beziehung der beiden im Laufe der Zeit, vor allem, als Julen sich heimlich den Revolutionären anschließt und erst in Schwierigkeiten gerät und schließlich nach Frankreich fliehen muss. Es geht um Ehre und um Patriotismus, um Katholizismus, Sexualität, um Familie, Fehltritte, Scham und möglichen Verrat.
Was die Prosa auszeichnet, sind die verschiedenen Zugänge zu der Geschichte. Denn zum einen lässt Aramburu aus der Rückschau von mehr als fünf Jahrzehnten den Jungen von damals auf die Ereignisse seiner Kindheit blicken. Er ist der Ich-Erzähler, der sich erinnert - und dies einem Schriftsteller namens Aramburu berichtet. Zum zweiten lesen wir in einem parallelen Strang die Notate des Autors im Flattersatz, der sich aus dem gerade Gehörten wiederum seinen eigenen Reim macht. Es sind tatsächlich nicht mehr als Stichworte, literarisch unausgearbeitet, allenfalls als Gedankenstützen gemeint. So aber werden wir mitunter über dieselben Ereignisse mehrfach informiert, durch eine nicht immer zuverlässige Erinnerung sowie durch die mit Kommentaren und Fragen versehenen Notizen, die schon auf die spätere Verwertung abzielen: "Die Beschreibung zweitrangiger Figuren besser nicht allzu ausführlich. Vorsicht mit verräterischen Einzelheiten. Die Tapete um die Steckdose herum von einem Kurzschluss schwarz verbrannt."
Während der 800-Seiten-Roman "Patria" horizontal und über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten von der Eta erzählt, stellt "Langsame Jahre" drei Figuren ins Zentrum eines Sommers. Es ist eine eindringliche Studie über baskische Verhältnisse, eine Region mithin, der sich die Literatur nicht eben häufig zuwendet. Es ist eine Auseinandersetzung mit den Anfängen von Gewalt und dem schmalen Grat zwischen Anliegen und Irrweg - und nicht zuletzt auch damit, wie daraus literarisch Profit zu schlagen ist.
SANDRA KEGEL
Fernando Aramburu:
"Langsame Jahre". Roman.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 208 S., geb.
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