Besprechung vom 18.12.2019
Der brave Papst, der unter Tunten lebt?
Frédéric Martel glaubt Rom entschlüsselt zu haben und betreibt Vatikanologie als gefallsüchtiges Geschwätz
Gleich zu Beginn, in einer Vorbemerkung des Autors, geht es los mit der Zahlenhuberei. Der Leser erfährt, dass Frédéric Martel mehr als vier Jahre lang für sein Buch recherchiert habe. Dabei habe er mit gut 1500 Leuten gesprochen, im Vatikan sowie in dreißig Ländern auf vier Kontinenten. Unterstützung habe er zudem von achtzig Rechercheuren, Korrespondenten, Beratern und Übersetzern erfahren.
Damit nicht genug, wird man auf den Seiten des langen Buches von Martel immer wieder mit der Information traktiert, wie oft er mit wem wo und wie lange gesprochen habe. Daraus geht in den meisten Fällen nichts hervor. Es offenbart aber die zentrale Autorenschwäche des zweiundfünfzig Jahre alten französischen Publizisten und Soziologen: Er befleißigt sich eines gefallsüchtigen Stils, und in den zentralen Thesen ist sein Buch gefallsüchtiges Geschwätz.
Im französischen Original sowie in weiteren sieben Sprachen ist das Buch schon im Februar herausgekommen, rechtzeitig zum Beginn des von Papst Franziskus im Vatikan einberufenen "Missbrauchsgipfels". Ein chronologisches oder argumentativ nachvollziehbares Narrativ gibt es in Martels Buch nicht. Er beginnt mit Papst Franziskus, springt zurück zu Paul VI., lässt ein Kapitel zu Johannes Paul II. folgen und schließt mit Benedikt XVI. Durchs Gewirr von Entwicklungen, Ereignissen und Gesprächen hat Martel willkürlich grellrote Fäden gelegt. Der dickste dieser Fäden handelt von einer angeblich "gigantischen homosexuellen Dimension" der jüngsten Geschichte des Vatikans. Schwulsein entspreche "im Klerus beinahe der Norm", will Martel aufgedeckt haben, und je höher hinauf man in der Kirchenhierarchie blicke, desto schwuler gehe es zu. Von Francesco Lepore, einem italienischen schwulen Ex-Priester, übernimmt der Autor umstandslos die Einschätzung, dass vier Fünftel der Mitarbeiter am Heiligen Stuhl schwul seien.
Selbstverständlich wird, so Martel, auch im Kardinalskollegium "Heterosexualität zur Ausnahme". Wohin Martel im Vatikan auch schaut, er entdeckt nichts als "fifty shades of gay". Es ist eine Welt, die "jede Vorstellungskraft" übersteige: Saunapartys mit männlichen Prostituierten; Priester, die an den einschlägigen Orten der Ewigen Stadt arabische Stricher frequentieren; Kirchenfürsten, die ein allseits bekanntes Doppelleben führen; junge Seminaristen, die mit ihrem Comingout ringen. Franziskus, für den der Autor eine glühende Sympathie hegt, lebe "unter Tunten", heißt es.
Den gegenwärtigen Papst zählt Martel, der selbst offen schwul ist, übrigens nicht "zur Gemeinde". Dafür seien vier der jüngsten Vorgänger von Franziskus schwul gewesen. Woher Martel das alles weiß? Er nimmt dafür sein angeblich stets zuverlässig arbeitendes "Gaydar" in Anspruch: Die Wortkontraktion aus "gay" und "Radar" insinuiert, dass er, Martel, dank seiner eigenen Homosexualität andere Schwule sofort erkenne.
Seine Küchenpsychologie hämmert Martel in sogenannte Sodom-Regeln. Die lauten etwa: Je homophober sich ein Kirchenfürst äußert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst schwul ist. Und: Je schwulenfreundlicher ein Prälat, desto weniger wahrscheinlich ist er selber schwul. Was treibt die maßgeblichen konservativen Kritiker von Franziskus in der Kurie an? Sie sind insgeheim schwul.
Sein monokausales Erklärungsmuster legt Martel über alle Entwicklungen der Weltkirche der vergangenen Jahrzehnte. Sämtliche Kritiker der autoritären Amtsführung sowie der linksliberalen Theologie von Papst Franziskus sind in den Augen Martels reaktionäre Feinde des Heiligen Vaters, deren Herz hart geworden ist, weil sie ihr Schwulsein verleugnen. Warum entscheiden sich in Europa und Nordamerika immer weniger junge Männer für das Priesteramt? Weil sie in den aufgeklärten westlichen Gesellschaften heute offen ihre Homosexualität ausleben können und nicht mehr nur in "der Gemeinde" hinter den Mauern des Kirchhofs oder eben des Vatikans.
Seinem bewunderten Kirchenreformer Franziskus erweist Martel mit seinem Buch einen doppelten Bärendienst. Erstens interessiert sich Martel allenfalls am Rande für die Vertuschung von notorischen Missbrauchsfällen in Argentinien durch den einstigen Erzbischof von Buenos Aires sowie für den skandalösen Umgang des späteren Papstes mit dem massiven Missbrauchsskandal in Chile, wo sich Franziskus erst nach einem internationalen Aufschrei zum radikalen Durchgreifen gegen die chilenischen Bischöfe gezwungen sah. Martel lässt dem Peronisten im Vatikan durchgehen, dass dieser die Untaten seiner Amigos unter den Teppich kehrt, während er seine weltanschaulichen Widersacher unerbittlich verfolgt. Damit spielt Martel das auch von Papst Franziskus betriebene obszöne Spiel mit, in welchem der monströse Missbrauch von Schutzbefohlenen als Waffe im politischen Kampf gegen innerkirchliche Gegner eingesetzt wird.
Zweitens entkräftet Martel mit seiner "Schwulenbrille" das Hauptargument von Franziskus, wonach die sexualisierte Gewalt in der Kirche ein Problem des Machtmissbrauchs - des "Klerikalismus" in den Worten des Papstes - sei und nicht ursächlich mit der sexuellen Orientierung der Täter zusammenhänge. Wenn aber nachweislich achtzig Prozent der Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche Jungen und männliche Jugendliche sind und nach Martel das Priestertum der bevorzugte Karriereweg für verkappte oder auch geoutete Schwule ist, dann ist der globale Missbrauchsskandal eben doch ein Schwulenskandal und kein Machtskandal.
Innerkirchliche Advokaten einer theologisch-dogmatischen Öffnung des Katholizismus gegenüber der Homosexualität wie der amerikanische Jesuit James Martin beklagen die verheerende Wirkung der Pauschalierungen Martels. Martin, Autor des 2017 erschienenen Buches "Building a Bridge: How the Catholic Church and the LGBT Community Can Enter into a Relationship of Respect, Compassion, and Sensitivity", wirft Martel vor, schwule Katholiken mit einer Art "friendly fire" zu belegen. Denn Martels Buch, schreibt Martin, erwecke "in den Köpfen die Vorstellung, dass alle schwulen Priester ihr Keuschheitsgelübde brechen und mit Missbrauch in Verbindung stehen".
MATTHIAS RÜB
Frédéric Martel: "Sodom". Macht, Homosexualität und Doppelmoral im
Vatikan.
Aus dem Französischen von Katja Hald u. a.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 671 S., geb.
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