GELESEN: Frances Hodgson-Burnett Das verlassene Herrenhaus
Erschienen in amerikanischer Erstausgabe 1907.
Erstmals übersetzt in die deutsche Sprache von Gerlinde Völker.
Erschienen am 06. September 2024, mit einem Nachwort von Angelika Zirker.
801 Seiten
Die Autorin des bereits im Jahr 1886 erschienen Romans Der kleine Lord, Frances Hodgson-Burnett, hat sich mit dem 21 Jahre später erschienenen Werk Das verlassene Herrenhaus wohl ein Denkmal gesetzt. Dass dieser 117 Jahre nach seinem Erscheinen erstmals in die deutsche Sprache übersetzt wurde, ist kaum zu glauben und ein Glück.
Ein wirklich in jeder Beziehung starkes kartoniertes Buch mit einem Gewicht von 1048g und Lesebändchen hält man in Händen, welches von der ersten Seite an den Leser mehr als gefangen nimmt. Macht man am Ende des Tages eine Lesepause, kann man es kaum erwarten, zu erfahren, wie die Geschichte weitergeht, die einen auch anschließend noch beschäftigt. Wir bewegen uns in einer längst vergangenen Zeit zwischen England und Amerika. Der Schreibstil erinnert ein wenig an Jane Austen.
Die aufgestellten Nebenfiguren sind sehr gut und deutlich skizziert, so dass man sie schnell auch viele Seiten später wiedererkennt.
Reichtum, Armut, Neid, Missgunst, Bosheit, aber auch die Liebe, die letztendlich siegt, weil sie einfach siegen muss, denn nur für die Liebe zu leben lohnt sich, was wir in diesem wunderbaren Roman, der bereits 117 Jahre alt ist, wieder einmal ganz deutlich erfahren.
Die Geschichte der unermesslich reichen amerikanischen in New York lebenden Familie Vanderpoel, die bis zur Heirat der älteren Tochter Rosalie glücklich und in Harmonie lebt, wird ganz eindrucksvoll erzählt. Nachdem Rosalie das Elternhaus verlassen hat und in England lebt, verändert sich gerade für die jüngere Tochter Bettina viel.
Der widerliche Charakter des adeligen, völlig mittellosen mit seiner inzwischen recht verwahrlosten Mutter lebende Sir Nigel Anstruthers, den inzwischen kein Mensch mehr mag, egal in welchem Kreis er sich bewegt, ob seines unangenehmen Auftretens, muss dringend zu Geld kommen. Einzige Möglichkeit sieht er in einer Heirat, und so findet er die passende Braut in der naiven, fast dümmlichen 19 Jahre alten Rosalie Vanderpoel. Rosalie ist in vierter Generation unermesslich reich. Zusammen mit ihrer 8 Jahre alten Schwester Bettina, genannt Betty, lebt sie behütet, fast abgeschirmt. Betty, anders als Rosalie, erkennt sofort, was Nigel im Schilde führt. Sie ist aber einfach noch viel zu jung, um ihre Empfindungen direkt in Worte zu fassen. Was von ihr kommt, ist unpassend, direkt frech, und Nigel versucht sich verbal gegen dieses ungezogene Kind zu wehren.
Wer sich diesen wunderbaren Roman zulegen möchte, sollte hier vielleicht nicht weiterlesen.
Zur Geschichte selbst:
Sir Nigel nimmt Rosalie mit nach England in sein heruntergekommenes Herrenhaus. Seine Mutter und er sind unverschämt zu Rosalie, behandeln sie wie eine Gefangene. Als Rosalie einer in Not geratenen Familie 100 Pfund schenkt, kommt es zu einem entsetzlichen Streit. Nigel schlägt sie, und er und seine Mutter schreien endlich heraus, was sie nach ihrer Meinung längst hätten tun sollen, nämlich, dass Rosalie durch ihre Heirat in einen höheren Stand gehoben wurde und dies gefälligst mit Geld zu bezahlen habe. Denn dies war ja das Ziel der Heirat. Die vielen Schulden müssen endlich getilgt werden.
Betty wächst heran, kommt in ein Internat nach Frankreich und weiter nach Deutschland, bereist zwischendurch mit ihrem reichen Vater die Welt und interessiert sich für alles, aber zunehmend für Politik. Alle Versuche der Familie, mit Rosalie im fernen England Kontakt aufzunehmen, scheitern, so dass ihre Eltern glauben, sie hätte sie vergessen. Betty glaubt das nicht. Sie spürt, dass hinter dem Schweigen ihrer Schwester etwas anderes stecken muss. Als sie endlich alt genug ist, besteigt sie zusammen mit einer befreundeten Familie und ihrer Zofe die Meridiana, ein recht luxuriöses Passagierschiff. Auf diesem Schiff lernt sie Salter, einen Passagier 2. Klasse, kennen. Nach ihrer Ankunft in Liverpool trennen sich ihre Wege. Betty begibt sich alleine nach Stornham Court zu Rosalie.
Die Spannung steigt hier ins Unermessliche. Was Bettina hier vorfindet, ist kaum auszuhalten. Betty hält es aus und mit viel Einfühlungsvermögen gelingt es ihr letztendlich wieder zu Rosalie, ihrer geliebten Schwester und deren Sohn Ughtred, einem sensiblen und gescheiten Charakter, mit einer sichtbaren Behinderung, vorzudringen. Nach und nach berichtet Rosalie von ihrem Martyrium. Was sich ihr Ehemann ausgedacht hat, kann kaum einem menschlichen Gehirn entsprungen sein. Betty nimmt sich Zeit, um in Ruhe zu hören, wie es mit ihrer Schwester und deren Sohn so weit kommen konnte. Das Anwesen hat Potenzial und auch das 20 km entfernte Anwesen. Zu Fuß startet sie diesem einen Besuch ab. Den dortigen Besitzer kennt Betty bereits von der Überfahrt. Es ist der Passagier 2. Klasse, Mount Dunstan James Hubert John Fergus Saltyre, der sich schlicht Salter nannte, dessen Anwesen dem ihrer Schwester gleicht. Der Park ist größer und auch das Herrenhaus. Salter kam unverschuldet in Armut und weiß nicht, wie er alles wiederherrichten könnte.
Mit großer Empathie geht Betty die Renovierung des Herrenhauses an. Sie hat alles minutiös geplant, sichert sich vorsichtshalber bei den Anwälten ihres Schwagers ab, der irgendwo an der Rivera weilt und nicht erreicht werden kann. Betty sucht Handwerker auf, die aus allen Wolken fallen. Endlich gibt es wieder etwas zu tun, was mehr ist als eine kleine Ausbesserung. Jeder Betrieb soll sich Leute im Umkreis zur Hilfe holen. Einmal in der Woche werden die Löhne bezahlt. Auch der Gärtner, der ein armseliges Dasein fristete, darf endlich ausführen, was er seit Jahrzehnten in seinem Kopf geplant hatte. Der Mann kann kaum glauben, dass Betty so großes Vertrauen in ihn setzt, obwohl er in längst vergangener Zeit nur Hilfsgärtner war. Er hat Erfahrung und weiß genau, welche Pflanzen an welchen Standort gehören.
Die immer wiederkehrenden Naturbeschreibungen sind ein Hochgenuss. Selbst aus dem Gesang eines Rotkehlchens, der Beschreibung einer Rasenfläche, einer Baumgruppe, oder der Farbe einer Blume wird eine extra eingeflochtene Nebengeschichte.
Es sind in erster Linie die Armen und Mittellosen, die sich mit viel Geschick und täglich wiederkehrendem Lebensmut beispiellos vorankämpfen. Betty, die in ihrer Kindheit und Jugend aus dem Vollen schöpfte, erweist sich nun als Engel, gibt und hilft, was der Vater im gar nicht mehr fernen Amerika, welches nun durch die stetig verkehrenden Schiffe immer näher rückt, mit Freuden absegnet. Alles, was sie zum Wiederaufbau des Herrenhauses und sämtlicher Nebengebäude einschließlich aller Cottages benötigt, steht ihr zu Verfügung. Sie bringt Freude in alle Herzen.
Als fast alles wiederhergerichtet ist, steht Betty vor dem Anwesen und betrachtet ihr Werk mit Wohlgefallen. Aus der Ferne kommt zu Fuß ein Mann, den sie, als er näherkommt, erkennt, obwohl sie ihn zwölf Jahre nicht mehr gesehen hat. Sir Nigel Anstruthers ist zurück. Nun gilt es fehlerfrei zu handeln. Dieser darf keinesfalls spüren, welche Verachtung sie für ihn hegt, und sie darf ihre Wut nicht ausufern lassen, die unweigerlich in ihr hochsteigt, als er sie mit seinen Reden provoziert, was nicht lange auf sich warten lässt. Als Rosalie zusammen mit ihrem Sohn Master Ughtred in einer Kutsche vorfährt, ist ihr Gatte vorübergehend verblüfft. Rosy ist in seiner Abwesenheit aufgeblüht. Als Master Ughtred Mutter sagt, hört sie sofort an seinem Ton, wer da in der Ferne bei ihrer Schwester steht.
Was nun geschieht verblüfft. Nigel lässt man schalten und walten. Dennoch wartet man, so scheint es, auf einen Moment, an dem er wieder vollkommen seine Fassung verliert und will dann wohl die Gelegenheit nutzen, um ihn endgültig loszuwerden. Dies ist die Vermutung. Er wird in die Gesellschaft eingebunden, spielt seine Spielchen, die immer wieder auffliegen. Er verbringt seine Tage voller Wut und Neid und möchte in jeder Stunde wieder zu dem werden, der er war, als er das Herrenhaus verlassen hat. Den meisten Zorn hegt er gegen seinen Nachbarn Mount Dunstan, den Passagier 2. Klasse. Er spürt, wie sehr dieser Betty mag und diese ihn. Sir Nigel entbietet sich diesem in seiner subtilen Art ganz deutlich, dass er, ob seiner großen Armut, niemals eine Chance bei seiner Schwägerin haben werde.
Sir Nigel gebärdet sich immer mehr wie ein Irrer, verspritzt überall sein Gift, streut Gerüchte, denunziert, wo er nur kann. Er ist mit Hass und Bosheit durchzogen, und er ist stolz darauf. Er ist die einzige Person in dieser ganzen Geschichte, die auf der absolut falschen Seite des Lebens steht und man hofft in jedem neuen Kapitel, dass er ein jähes Ende finden möge, damit keinesfalls die Bosheit siegt.
Wie schon eingangs geschrieben, ist F.H.-B. hier eine außergewöhnliche Geschichte gelungen, die ich sehr gerne empfehle.