Besprechung vom 16.03.2019
Im Spiegel kollektiver Befürchtungen
Frank Biess schreibt eine Geschichte der Bundesrepublik am Leitfaden kollektiver Ängste. Aber Arbeit am Begriff ist dabei nicht seine Sache.
Von Patrick Bahners
Am 25. September 2008 gab der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Der erste Satz lautete: "Immer mehr Unsicherheiten, ja Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in unserem Land, sondern fast weltweit." Steinbrück sah sich veranlasst, gleich am Anfang eine "wichtige Feststellung" zu treffen: "Die Bürgerinnen und Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben." Er wiederholte sie am Ende. Diese Worte des Ministers waren nicht genug. Am 5. Oktober traten Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister gemeinsam vor die Kameras, um den Bürgern das Versprechen zu geben, dass die Bundesregierung für alle Spareinlagen von Privatleuten in voller Höhe einstehe. Die Titelgeschichte der am Tag darauf erscheinenden Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" hatte die Schlagzeile: "Angst vor der Apokalypse". "Handelsblatt" und "Frankfurter Rundschau" brachten Artikel mit den Überschriften "Kampf gegen die Angst" und "Im Bann der Angst".
In "Republik der Angst", dem Buch des Historikers Frank Biess, das die Geschichte der Bundesrepublik im Spiegel übermächtiger kollektiver Befürchtungen erzählen will, kommt diese Episode nicht vor. Die Finanzkrise von 2008 wird im Epilog über die Ängste der Gegenwart ganz am Rande erwähnt. Frank Biess, der an der University of California in San Diego lehrt, gliedert die westdeutsche Nachkriegsgeschichte als Abfolge von "Angstzyklen", von der "Vergeltungsangst" der Besatzungszeit über die "Kriegsangst" der heißen Phase des Kalten Krieges bis zu deren Wiederkehr und Steigerung in der "apokalyptischen Angst" der Friedensbewegung. Der Angst vor dem Zusammenbruch der Volkswirtschaft und dem Verlust des Volksvermögens widmet Biess kein Kapitel.
Das ist aus mehreren Gründen befremdlich. Hauptthema des Buches ist die nachhaltige Prägung der Zukunftserwartungen der Westdeutschen durch die Erinnerung an die deutsche Katastrophe von Diktatur, Niederlage und Völkermord. Dass die Inflation des Jahres 1923 in der Wirtschaftsgesinnung der Deutschen und insbesondere der bürgerlichen Schichten Spuren hinterlassen habe, die man in der Alltagssprache der Gebildeten traumatisch nennt, ist eine gängige Annahme. Hält Biess sie für unbelegt?
Es zeichnet den Autor aus, dass er nicht spekulieren will. In Abgrenzung von älterer nationalpsychologischer Literatur rechnet er nicht mit nachweisbaren mentalen Ablagerungen vermeintlicher Urtatsachen der deutschen Geschichte wie Vielstaaterei und Reformation. Der politischen Geschichte der Weimarer Republik schreibt Biess allerdings durchaus eine mahnende Präsenz im Gefühlshaushalt der zweiten Demokratie zu. "Demokratische Angst" nennt er reichlich künstlich die von professionellen Beobachtern der Politik artikulierte Befürchtung, Bonn könne am Ende doch Weimar werden. Die Vermutung, die Zustimmung der Bevölkerung zur Verfassung sei durch die positive Wirtschaftsentwicklung bedingt, die Bundesrepublik lebe insofern auf Kredit, erörtert Biess in diesem Zusammenhang nicht.
Wenn er die Inflationsangst für überschätzt hält, hätte er das zum Thema machen können - um seinen Ansatz durch eine Gegenprobe abzusichern. Er möchte nämlich, der buchhandelsüblichen Übertreibung von Titel und Untertitel zum Trotz, gar nicht behaupten, dass die Bundesdeutschen pausenlos angstgetrieben agiert hätten. Aber auch das zyklische Modell suggeriert eine Totalgeschichte. Die Angstzyklen sind offenkundig den Konjunkturzyklen nachgebildet. Biess vernachlässigt die Wirtschaft - und damit zugleich die Feinarbeit am Begriff.
Eines der acht Kapitel hat ein ökonomisches Sujet: eine "moderne Angst", die sich gerade wegen des wundersamen Ausbleibens von Wirtschaftskrisen habe ausbreiten können. Wie heute die Digitalisierung habe in den sechziger Jahren die Automatisierung eine allgemeine Beunruhigung ausgelöst. Belege dafür sind Traktate, Leitartikel, Arbeitsaufträge für Arbeitsgruppen. Aber genügt es denn, dass eine Besorgnis von vielen Leuten geteilt wird, weil sie sich auf einen Vorgang richtet, der den Alltag von sehr vielen Leuten verändern wird, um sie mit dem Elementarbegriff der Angst zu klassifizieren? Auch wo in den Quellen der vorweggenommene Ärger über insgeheim als unaufhaltsam eingestufte Änderungen Angst genannt wird, müsste der Historiker diese pathetische Stilisierung nicht übernehmen. Der Begriff der Angst dient Biess einfach als Passepartout für diskursive Unruhe.
Ein Beispiel dafür, dass etwa eine Fabrik besetzt worden wäre, weil die Arbeiter ihre Ersetzung durch Rechenmaschinen hätten verhindern wollen, kann Biess nicht nennen. An frühere Schübe der Rationalisierung, wie die Verdrängung der Handweberei, knüpft sich im kollektiven Gedächtnis aber sehr wohl die Erinnerung an vorauseilende hilflose Widerstandshandlungen: Angstreaktionen. Und solche einfachen Handlungen, die in der Summe das System hätten zerstören können, wollte Steinbrück 2008 mit seinen beschwörenden Worten verhindern: Er wollte die Leute davon abhalten, zur Bank zu gehen und ihr Geld abzuheben.
In der Einleitung beruft sich Biess auf den Wissensstand der "interdisziplinären Emotionsforschung", um das kognitive Moment der Angst zu betonen, die Funktion eines Frühwarnsystems. Er will die Annahme physiologischer Universalien vermeiden, die einer Geschichte der Emotionen keinen Spielraum ließen, und spielt deshalb wohl doch zu sehr herunter, was der Emotionshistoriker aus der Gattungsgeschichte lernen kann. Eine eingrenzende Definition von Angst wäre das Gefühl eines Lebewesens für eine Bedrohung, auf die es entweder mit Angriff reagieren kann oder mit Flucht.
Warum wirkt es schief, wenn Biess die skeptischen Einschätzungen der Überlebenschancen der Bonner Republik, die liberale Wissenschaftler wie Karl Dietrich Bracher oder Wilhelm Hennis unter dem Eindruck der Notstandsgesetze oder des Protests gegen die Notstandsgesetze vortrugen, unter Angst subsumiert? Die Perspektive ist hoffnungslos pathologisch: Das Interesse an der politischen Erziehung des Herzens bleibt im Schulmeisterlichen stecken, wenn eine übers Ziel hinausschießende Polemik als Notwehrexzess verbucht werden muss. Es gibt ungute Gefühle, die einen guten Dienst für die Schärfung der Aufmerksamkeit leisten, ohne zur Wahl zwischen Angriff und Flucht zu nötigen. Golo Mann rühmte Konrad Adenauer in dieser Zeitung als "Staatsmann der Sorge". Frank Biess hätte sein Buch über ein Land im Frühwarnmodus auch "Republik der Sorge" nennen können, "Republik des Unbehagens" oder "Republik der Kritik". Aber dann hätte es wohl sein Verlag mit der Angst zu tun bekommen.
Frank Biess: "Republik der Angst". Eine andere Geschichte der Bundesrepublik.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 624 S., geb.
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