Besprechung vom 16.03.2024
Wie erfrischend es doch ist, mit einem vollkommenen Narren zu reden!
Was ist das für eine Justiz, in deren Mühlen Josef K. gerät? Und welchen Anteil hat der Beschuldigte am Fortgang seines Verfahrens? Der Kafka-Biograph Reiner Stach legt mit "Der Process" den ersten Band einer kommentierten Werkausgabe vor.
Von Tilman Spreckelsen
Als Franz Kafka Mitte August 1914, zwei Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs und einen Monat nach dem Ende seiner Verlobung mit Felice Bauer, die Arbeit an "Der Process" begann, steckte der Einunddreißigjährige zunächst in zwei Kapiteln den Rahmen der Geschichte ab, die seinen Weltruhm wesentlich begründen sollte: Das eine schildert, wie der Bankangestellte Josef K. an seinem dreißigsten Geburtstag Besuch von zwei Männern bekommt, die ihn für "verhaftet" erklären, ohne ihn allerdings zu verhören oder in Gewahrsam zu nehmen. Das andere jener beiden zuerst geschriebenen Kapitel beschreibt dann das Ende jenes Mannes am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages. Wieder kommen zwei Männer zu ihm, sie führen ihn aus der Wohnung und durch belebte Straßen zu einem verlassenen Steinbruch. Dort stößt ihm einer der beiden ein Messer ins Herz. K. wehrt sich nicht. Seine letzten Worte gelten dem eigenen Sterben: "Wie ein Hund!"
Erst nachdem Kafka auf diese Weise Anfang und Ende der Romanhandlung zu Papier gebracht hatte, schrieb er eine Reihe weiterer Kapitel über die Erlebnisse K.s im Verlauf jenes Jahres (bevor er dann im Januar 1915 die Arbeit am "Process" abbrach). Ihr Inhalt: K. nimmt Kontakt zu einem Anwalt auf und entlässt ihn wieder aus seinen Diensten, er lernt einen Maler kennen, dem eine intime Kenntnis der zuständigen Richter nachgesagt wird, seine zuvor glänzende Stellung als Prokurist der Bank nimmt Schaden, als sich die Nachricht von dem Verfahren gegen ihn verbreitet, und als er einmal einen italienischen Geschäftspartner der Bank durch den Dom seiner Stadt führen soll, trifft er dort statt des Gastes einen Geistlichen an, den "Gefängniskaplan", der ihm die später so berühmte Parabel "Vor dem Gesetz" erzählt.
Aus diesem Material stellte Kafkas Freund Max Brod eine Romanfassung zusammen, die im April 1925 erschien, zehn Monate nach dem Tod ihres Autors. Als Brod nochmals zehn Jahre später eine neue Ausgabe des Romans herausbrachte, ergänzte er den Text um eine Reihe von zuvor von ihm ausgeschiedenen Kapiteln. 1990 erschien im Rahmen der Kritischen Kafka-Ausgabe bei S. Fischer eine Edition, die partiell zu einer anderen Anordnung der Kapitel fand, während wiederum sieben Jahre später die Historisch-Kritische Ausgabe von Roland Reuß und Peter Staengle im Verlag Stroemfeld auf die Herstellung einer Reihenfolge insofern ganz verzichtete, als sie die Kapitel in jeweils einzelnen Heften publizierte.
In diesem Frühjahr nun bildet eine weitere Edition von "Der Process" den Auftakt zu einer kommentierten Kafka-Ausgabe, die von dem renommierten Kafka-Biographen Reiner Stach bei Wallstein erscheint - im selben Verlag, der nach dem Konkurs von Stroemfeld dessen Historisch-Kritische Ausgabe fortgeführt hatte. Deren Herausgeber empfanden die Ankündigung der Stach-Ausgabe als Affront (F.A.Z. vom 23. September 2023) und suchten sich einen neuen Verlag, der, wie jüngst bekannt wurde, jetzt in Vittorio Klostermann gefunden wurde.
Nun ist der Herausgeber Stach ersichtlich nicht angetreten, um den vorhandenen Textfassungen eine weitere, völlig neue an die Seite zu stellen. Gegenüber der Ausgabe von S. Fischer ändert er die Reihenfolge der Kapitel geringfügig. Im Text selbst hält er sich zwar weitgehend an die Schreibweise im Manuskript, greift aber doch etwa in die Zeichensetzung ein, wo Kafkas Schreibungen "den Lesefluss erheblich behindern oder das Verständnis erschweren". Das wird man bedauern, falls man Satzzeichen in Manuskripten unabhängig von der Grammatik auch als vom Autor gesetzte Zäsuren im Text ansieht.
Dem Text mit den zugehörigen, aber nicht in die Kapitelfolge integrierten Fragmenten folgt ein mehr als hundert Seiten langer Apparat mit Stellenkommentar, Literaturverzeichnis und Nachwort - der Versuch also, angesichts des Ozeans der Kafka-Rezeption Schwerpunkte zu setzen, die eine Lektüre erleichtern und im Idealfall den Weg zur Vertiefung ebnen.
Stachs Mittel hierzu ist ein "Glossar" getaufter Abschnitt im Apparat, der vier Begriffe vorstellt, mit deren Hilfe ein Zugang zum Verständnis des Romans ermöglicht werden soll. Das "einsinnige Erzählen" erläutert die überwiegend eingenommene Perspektive, die der von K. entspricht und gleich im berühmten ersten Satz des Romans ihre Grenzen offenbart, denn ob sich K. tatsächlich nicht "etwas Böses" zuschulden kommen ließ, ist eine endlos diskutierte Frage. Das "Erzählersignal", das die Leser auf solche Brüche hinweist, ist der zweite im Glossar vorgestellte Begriff, die "Spiegelfunktion des Gerichts" - das mögliche Reagieren der Behörde auf Impulse K.s - ist der dritte, und das "Traummotiv", das auf die Handlungselemente jenseits einer realistischen Erwartung verweist, der vierte.
Dabei ist es kaum Stachs Ehrgeiz, völlig neue Ansätze zur Erläuterung des Romans zu liefern. Was er aber anbringt, ist gut begründet, schon gar wo es im Biographischen wurzelt wie die von Kafka offenbar als Tribunal empfundene Aussprache mit seiner damaligen Verlobten Felice Bauer am 12. Juli 1914 im Askanischen Hof in Berlin. Stach zieht von hier aus eine Linie zum Verhältnis, das zwischen K. und einem Fräulein Bürstner besteht, seiner Zimmernachbarin in der Pension, abgekürzt wie die Verlobte mit "F. B.", und auch der Nachname der dritten in der realen Dreieckskonstellation, Grete Bloch, findet leicht verwandelt in den Roman Eingang.
Stach wird nicht müde, immerfort auf die Entsprechung zwischen K. und dem Verhalten der mit dem Gericht über ihn irgendwie befassten Personen zu verweisen, als wechselseitige Aktion und Reaktion, sodass in dieser Lesart alles, was K. widerfährt, auf seine Zustimmung angewiesen ist. An solchen Stellen wird manches angeführt, was der Leser, einmal auf die Spur gebracht, sicherlich auch allein entschlüsselt hätte. Hilfreicher sind da die Erläuterungen zu den Realien, gerade wo sie das Justizwesen der Zeit betreffen und das so Unheimliche der Romanhandlung klar herausstellen, die ja gerade keinen vertrauten Gerichtsapparat schildert, eigenen Regeln zu folgen scheint, auch wenn diejenigen, die ihr Leben in diesen Strukturen verbringen, all ihrem Gerede zum Trotz im Grunde ebenso ratlos erscheinen wie K.
Der promovierte Jurist Kafka kannte allerdings auch die andere Seite. In einer Tagebuchnotiz aus dem Februar 1912 hält er fest, wie ihn ein verzweifelter Bankbeamter namens Oskar Reichmann anhält und um juristischen Rat bittet: Man habe einen seiner Texte dreist kopiert und, ohne seinen Namen zu nennen, in die Zeitung gesetzt. Er habe daraufhin alle Beteiligten aufgesucht und sich beschwert, ihm sei aber nicht geholfen worden. Kafka lässt sich Reichmanns Manuskript und den Zeitungstext zeigen und stellt fest, dass es kaum Ähnlichkeiten gibt. In seiner eigenen Wahrnehmung ist Reichmann, ähnlich wie K., zweifellos das Opfer einer undurchdringlichen Maschinerie.
Kafka aber hält fest, er sei mit der Erfahrung nach Hause gegangen, "wie erfrischend es ist, mit einem vollkommenen Narren zu reden". Es folgt ein Nachsatz, der fast wie ein Schreibimpuls klingt: "Ich habe fast nicht gelacht, sondern war nur ganz aufgeweckt."
Franz Kafka: "Der Process". Roman.
Herausgegeben und kommentiert von Reiner Stach. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 397 S., geb.
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