Churchill galt in den dreißiger Jahren als politisch erledigt, doch da er unermüdlich vor der Bedrohung durch Deutschland gewarnt hat, wurde er über Nacht Premierminister - und zu Hitlers härtestem Gegner.
Der Held des 20. Jahrhunderts: Er hat Hitler aufgehalten
Unter den herausragenden Politikern des 20. Jahrhunderts ist Churchill der schillerndste. Hollywood hat den Adeligen mit der Zigarre längst zu einer Film- und Heldenfigur überhöht. Seine Sätze, dass er etwa »außer Blut, Schweiß und Tränen« nichts zu bieten habe, sind geflügelte Worte. Churchill gilt als einer der größten Redner der Geschichte, hat seinen aufwendigen Lebensunterhalt als Schriftsteller und Journalist bestritten und wurde mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er galt in den dreißiger Jahren als politisch erledigt, doch da er unermüdlich vor der Bedrohung durch Deutschland gewarnt hat, wurde er über Nacht Premierminister während deutsche Truppen in Frankreich einmarschierten und war Hitlers härtester Gegner.
Besprechung vom 10.05.2024
Ein Mann der politischen Volten
Seine Karriere verdankte sich auch einem hohen Maß an Opportunismus: Franziska Augstein porträtiert Winston Churchill.
Britische Politiker signalisieren bisweilen durch Biographien, wer ihre Vorbilder sind. Das Wunderkind William Hague beispielsweise schrieb ein Buch über das Wunderkind William Pitt den Jüngeren und Boris Johnson eines über Winston Churchill. Johnsons Werk war gewiss ein Akt der Selbstüberhebung, aber zugleich ein Identifikationsangebot, das nicht nur zu schmeichelhaften Vergleichen einlud. Denn: "Winston Churchill war großartig. Er war großartig darin, seine Meinung zu ändern", bedacht darauf, "seinen persönlichen politischen Vorteil zu suchen und zu finden". Dass Franziska Augsteins neue Biographie mit solchen Sätzen beginnt, verweist darauf, wie kontrovers Churchill geworden ist.
Churchill ist ein schwieriges biographisches Sujet. Zu seinem Leben gibt es eine Überfülle an privatem wie amtlichem Material. Er bewegte sich in ganz unterschiedlichen Kontexten. Der Geburt in der britischen Aristokratie folgten eine Leidenszeit in Privatschulen, die Offiziersausbildung und Einsätze unter privilegierten Bedingungen, die sich mit einer Tätigkeit als Kriegskorrespondent verbanden. Familiäre Verbindungen und literarischer Ruf ebneten den Weg in die Politik, zunächst auf konservativer, dann auf liberaler, dann wieder auf konservativer Seite.
Im Kabinett war Churchill für Inneres, die Marine, Munitionsbeschaffung und Finanzen zuständig. Dazu kam eine mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete und finanziell sehr einträgliche Tätigkeit als Autor historischer Werke, die zum einen um die Vorgeschichte der eigenen Familie, zum anderen um die eigenen Leistungen im Zweiten Weltkrieg kreisten. All das macht es schwer, zu entscheiden, wo eine Biographie Churchills aufhört und eine allgemeine Geschichte der britischen Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit anfängt.
Franziska Augstein meistert die Herausforderung, indem sie sich auf die bestehende biographische Literatur stützt und diese durch Forschungsarbeiten zu ausgewählten Themen ergänzt. Die Darstellung verbindet einen thematischen mit einem chronologischen Zugriff. Sie widmet sich zunächst dem jungen Churchill bis zur Hochzeit, um dann die Biographien seiner Kinder zu skizzieren; in den folgenden Kapiteln steht dann Churchill als öffentliche Figur im Mittelpunkt. Das führt zwar gelegentlich zu Vor- und Rückgriffen, die Argumentation bleibt aber immer gut nachvollziehbar. Augstein beschreibt die Motivation für das Buch als einen durchaus persönlichen Versuch, sich ein Urteil über Churchill zu bilden. Entsprechend geht es nicht darum, neue Erkenntnisse vorzustellen, sondern darum, das Bekannte vor dem Hintergrund von Fragestellungen unserer Zeit einzuordnen.
Wie das Eingangszitat deutlich macht, sieht Augstein in Churchills bemerkenswerter Karriere ein hohes Maß an politischem Opportunismus am Werk; eine nachvollziehbare intellektuelle Entwicklung, die Churchills zahlreiche politische Volten als Reaktionen auf sich verändernde Umstände erklären könnte, tritt dahinter zurück. Damit werden auch die abrupten Brüche in der Karriere plausibel: Der Wechsel vom Kabinett an die Westfront im Ersten Weltkrieg oder der Ausschluss von politischen Spitzenämtern in den Dreißigerjahren erfolgten, wenn Churchill den Bogen überspannt hatte. In diesen Momenten halfen seine insgesamt eher rhetorischen als strategischen oder administrativen Talente dann auch nichts mehr. Was ihn auszeichnete, war vor allem seine Ausdauer: Durch die stetige Präsenz im Unterhaus wie in den Medien gelang es ihm, immer für Ämter verfügbar zu bleiben und schließlich in der größten Not Premier zu werden.
So begrenzt sympathisch Augstein die Person Winston Churchill findet, so differenziert ordnet sie sein politisches Handeln und seine Einstellungen in die jeweiligen Kontexte ein. Die größten Desaster, der Angriff auf Gallipoli und die Rückkehr zum Goldstandard, seien auch Prozessen kollektiver Entscheidungsfindung zuzurechnen gewesen. Bezüglich der Diskussion, ob Churchill ein Rassist gewesen sei, dient ihr Gandhi als ebenso extremer wie überraschender Bezugspunkt: Auch dieser habe an eine Hierarchie von Völkern im Empire geglaubt und bis 1941 einer Bewunderung für Hitler Ausdruck verliehen, was sowohl Churchills zeitweilige Begeisterung für Mussolini wie auch seine mit drastischen Worten ausgedrückte Ablehnung Gandhis relativiere. Für eine persönliche Verantwortung Churchills am akuten Mangel an Lebensmitteln, der im Zweiten Weltkrieg in Indien herrschte, gebe es keine Belege.
Insgesamt sei Churchill eben ein im Empire des neunzehnten Jahrhunderts sozialisierter Mann gewesen und geblieben. Das drückte sich auch in seiner herablassenden Einstellung gegenüber Frauen aus; allerdings unterschied sich sein monogames Familienleben von den zeittypischeren, komplizierten Beziehungen seiner Eltern und Schwiegereltern. Gerade am Ende seiner Karriere habe er zukunftsweisende Ziele verfolgt, die er nicht mehr umsetzen konnte, bevor sich die Partei seiner entledigte: Ausgleich und Abrüstung zwischen den USA und der UdSSR sowie eine kompromissorientierte Sozialpolitik. Das ist ein versöhnliches Urteil, das sich gleichwohl mit dem Hinweis auf die in jüngster Zeit diskutierten finanziellen Abhängigkeiten, in die sich Churchill nach dem Ende seiner politischen Karriere begab, verbindet.
Augsteins abgewogene Darstellung endet mit einem kurzen Überblick der Entwicklung von Churchill-Bildern in aktuellen politischen Debatten und in den Medien. Neben der Heroisierung und der scharfen Kritik konstatiert Augstein dabei vor allem eine Marginalisierung, so etwa Churchills Nebenrolle in "The Crown".
Auch dieser Entwicklung soll die Biographie abhelfen. Sie ist zugänglich, bisweilen flott geschrieben. Selten schießen die meist treffenden Formulierungen dabei über das Ziel hinaus: Winstons Vater Randolph (Jahrgang 1849) wäre vermutlich ziemlich überrascht gewesen zu erfahren, dass er nur "per Postkutsche oder Telegraphie" kommunizieren konnte, nicht etwa auch per Brief, der im Postzug ans Ziel kam. Gladstone und Disraeli hätten sich viele Wahlkampfmühen erspart, wäre die Frage, wer Premierminister wird, wirklich "zwischen den Parteien ausgehandelt" und nicht an der - gewiss, keineswegs für alle zugänglichen, aber dennoch bedeutsamen - Wahlurne entschieden worden. Churchill erlebte viele Umbrüche, aber ganz so groß waren manche Zäsuren dann doch nicht. ANDREAS FAHRMEIR
Franziska Augstein: "Winston Churchill". Biographie.
dtv Verlag, München 2024. 624 S., Abb., geb.
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