Besprechung vom 22.07.2024
Der Zufall zieht am Schicksal
Frida Nilsson macht mit Hunden und Menschen eine Exkursion ins Jahr 1910
Warum hat Martin diese weiße Wut? Er weiß es nicht, und er kann sie auch nicht zähmen. Sie bricht aus ihm hervor, mit solcher Macht, dass er hinterher ganz klein und zitternd zurückbleibt. Manchmal aber auch mächtiger, durch diese ungeheure Wut. Weil andere zurückweichen, wie vor einem bösen Hund.
Wenn Frida Nilssons jüngster Roman "Martin & Jack" den langen Untertitel "Von Hundebesitzern, Katzenjägern und der Suche nach dem Glück" trägt, dann nicht nur deshalb, weil das schwedische Original 2023 in zwei Bänden erschienen ist, einmal Hund, einmal Katze. Sondern weil es vor allem um diese Suche nach dem Glück geht oder viel mehr noch nach der Liebe.
Es gibt sehr wenige Autorinnen für junge Leserinnen und Leser, die ihrem Publikum und ihren Figuren den ganzen Schmerz, die Mühsal, die Opfer des Liebens, auch des vergeblichen Liebens nicht vorenthalten. Im Grunde handeln all die großen Romane der Schwedin Nilsson, Jahrgang 1979, die sie seit mittlerweile 20 Jahren geschrieben hat, von der Macht der Liebe - auch der Ohnmacht. Und sie erzählen alle von dem Druck der Verhältnisse, der dadurch entsteht, dass der Mensch als erster Ausbeuter der Erde seine Ressourcen und Mitkreaturen nicht respektiert. In Nilssons Welten, die Realismus und Phantasie verweben, spielen die Fragen nach der Gerechtigkeit unter den Erdbewohnern und die Gier eine zentrale Rolle.
Waren in "Sem und Mo im Land der Lindwürmer" (2022) jene Szenen am schmerzlichsten, in denen die zu menschenartigen Sklaven verformten Tiere in ihrer Erniedrigung sichtbar wurden, so entwirft Nilsson in "Martin & Jack" geradezu eine Zweiklassengesellschaft: In diesem Schweden des Jahres 1910, es ist das erste Mal, dass Nilsson eine Jahreszahl verwendet, gibt es die Menschen und die Hunde. Dass Jack, der uralte halb blinde Hund, lesen kann und die Zeitungen als Träger der Wahrheit und Mittel der Aufklärung verehrt, während der Ich-Erzähler Martin über lange Zeit Analphabet bleibt, ist nur ein Element in jenem Topos der verkehrten Welt, den Nilsson nutzt, um weiter voranzuschreiten auf einem Weg, den sie vor Jahren eingeschlagen hat. Diesmal tut sie es in einer Epoche, in der die Kindheit Astrid Lindgrens lag, die, auch das ein zarter Verweis, einst als Zeitungsvolontärin ihren Berufsweg begann.
Menschen sind in der Geschichte, die ein bisschen aufgebaut ist nach dem addierenden Prinzip der Bremer Stadtmusikanten, die Bestimmer, und Hunde sind entweder rechtschaffene, etwas tumbe Dienstgeschöpfe - oder aber Halunken. Von denen wiederum gibt es reichlich in "Martin & Jack". Die Geschichte lässt wenig Zweifel daran, dass die Halunken nur deshalb welche sind, weil die Menschen den Hunden keine andere Chance lassen. Anderen Menschen übrigens größtenteils auch nicht. Martin selbst wird, so jung er ist mit seinen knapp neun Jahren, zu einem ziemlich gewieften Serientäter und Betrüger. Als Kind, so scheint es, hat man ohnehin nicht groß die Wahl: "So ist das, wenn man ein Kind ist. Es gibt so vieles, was man nur macht, weil man weiß, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt", heißt es an einer Stelle. Nur einer von vielen schneidend klaren Sätzen, die aus dem Erzählgebirge wie Solitäre herausragen.
Auch jene, die als "gute Menschen" gelten, sind ambivalent, fehlbar, auch der rückblickende Erzähler Martin. Nichts ist sicher in dieser Welt, in der er seinem Adoptivvater, dem Bauern Pär Pärsson, ausbüxt, um seinen wahren Vater zu finden. Wer hat das größere Herz, der in der Härte des Lebens gehärtete Bauer - oder der Stadtmensch und Journalist, Martins Vater, der sich in den Alkohol flüchten muss, um einigermaßen durchs Leben zu kommen? In "Martin & Jack" geht es längst nicht nur darum, in einem schillernden Roadtrip Martins verschollenen Vater zu finden und Jack aus einem Justizirrtum zu befreien. Es geht um Gerechtigkeit, um die Frage, was denn ein gelungenes Leben ist. Vor allem, wenn der Zufall das Schicksal nach seinem Gusto zurechtzieht. In der deutschen Ausgabe, wieder von Friederike Buchinger übersetzt und sogar mit zwei Hunde-Liedern versehen, hat Torben Kuhlmann den Roman meisterhaft mit einem Zeitungstitel und Vignetten gestaltet. Denn um Politik, Meinung und Mitbestimmung geht es auch.
Es ist schon immer überaus ungewöhnlich gewesen, wie schonungslos Nilsson, die geradezu radikal aus Kinderperspektive erzählt, die Erwachsenen darstellt. In diesem Fall vom bösen Hanswurst Polizist über eine demente Hundemami bis zu Martins Vater, der wie ein Kind erscheint, mit dem Branntwein als Mutter, in deren Armen er Trost sucht. Wo schon in "Sem und Mo im Land der Lindwürmer" der Humor rar gesät war im Vergleich zu früheren Romanen, muss man ein gutes Nervenkostüm haben, um über die lustigen Szenen noch kichern zu können, die es durchaus auch gibt in "Martin & Jack".
Doch Nilssons Geschichte aus einer Zeit, in der Automobile frisch erfunden und Züge zumindest für manche Hunde noch neumodisches Teufelswerk sind, fehlt nicht nur viel von dem Humor, der in "Sasja und das Reich jenseits des Meeres" so meisterhaft ganz große philosophische Themen tragen konnte. Sie stellt soziale Fragen, erzählt geradezu nüchtern von Alkoholsucht, fragt nach dem, was die Härte des Lebens an unterschiedlichen Menschen ausrichtet. Eine logische Fortschreibung ihrer Themen, souverän in die Figuren gebettet. Aber es sind sehr viele für ein Kind und ein paar Hunde. So ist "Martin & Jack" im Universum von Frida Nilsson wohl die bislang strubbeligste Geschichte geworden. Ein wenig wie das Fell der Hunde Jack, Ruffe und Lonna. EVA-MARIA MAGEL
Frida Nilsson: "Martin & Jack".
Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2024. 376 S., geb., 22,- Euro. Ab 11 J.
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