Besprechung vom 15.08.2021
Widerstand durch Mitmachen
Fridolin Schley rollt in seinem aufwühlenden Roman "Die Verteidigung" den Nürnberger Prozess neu auf, in dem Richard von Weizsäcker seinen Vater mit verteidigte
Es beginnt mit einem Gerichtssaal voller Geräusche. Zu hören sind Stühlerücken und das Klacken von Schnallen an Ledertaschen; Rascheln durch die Seiten der Prozessordnung und durch die der neuen Ausgabe der Nürnberger Tageszeitung. Zwei Techniker des Bayerischen Rundfunks lassen die Gelenke eines Stativs einrasten. Der Lautsprecher, der über ihnen, auf dem Sims der Holzvertäfelung, angebracht ist, knackt und pocht dann dumpf. Und Richard, der sein Jurastudium in Göttingen unterbrochen hat, um hierherzukommen, und der gerade dabei zusieht, wie einer der Angeklagten den Schlipsknoten strafft, denkt an die Gier nach Musik nach dem Krieg. Nach Wissen, nach weiten Gedankenwelten und ihren Maßstäben, die die juristische Fakultät ihnen nur in Klauseln und Paragraphen vermittelt, "meist ohne großen Zusammenhang". Je genauer er auch jetzt auf Einzelheiten im Raum vor sich achtet, desto weniger kann er ihn als Ganzes erfassen. Dabei wird es hier ums große Ganze gehen. Und darum, wie alles mit allem zusammenhängt.
Es ist November 1947 in Nürnberg, im "Wilhelmstraßen-Prozess", in dem Richard von Weizsäcker als Assistent an der Seite von Hellmut Becker seinen Vater, Ernst von Weizsäcker, verteidigt, der hier als Kriegsverbrecher angeklagt ist. Der Vater war am 1. April 1938 in die NSDAP eingetreten, wurde zwei Tage darauf zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts ernannt, unter Außenminister Ribbentrop der höchste Diplomat des Landes. Am 23. April 1938 unterzeichnete er seinen Aufnahmeantrag in die SS, wurde dem persönlichen Stab des Reichsführers SS Heinrich Himmler zugeteilt, der ihn vier Jahre später zum SS-Brigadeführer beförderte und ihm den Totenkopf-Ehrenring und den SS-Degen verlieh. Richard blickt auf seinen Vater, den die Haft hager gemacht hat, das Kinn noch fliehender, und dessen zu groß gewordener Anzug einem Kostüm gleicht. Oder besser: Der Schriftsteller Fridolin Schley beschreibt diesen Blick des Sohnes auf den Vater.
Denn Schley, der über den Schriftsteller W.G. Sebald promoviert und bereits mehrere Romane veröffentlicht hat, zuletzt die Novelle "Die Ungesichter", hat einen Roman über diesen Prozess geschrieben. Er heißt "Die Verteidigung" und gehört zu den aufwühlendsten Büchern dieses Herbstes, weil er in einer provozierend nüchternen Sprache, mit der er die Formeln der nationalsozialistischen ,Diplomatie' und die der Verteidigung in Nürnberg komplett auseinandernimmt, den ganzen Prozess noch einmal aufrollt. Er nimmt sich die Vater-Sohn-Konstellation und den begrenzten Zeitraum des Prozesses - das Urteil wird am 11. April 1949 verkündet - vor und lässt auf diese Weise nicht nur die Naziverbrechen in der Figur des Vaters und die entstehende Bundesrepublik in der Figur des Sohnes aufeinandertreffen. Indem er den Prozess anhand von Aufnahmen, Dokumenten und einer langen Liste von Sekundärliteratur rekonstruiert (darunter Richard von Weizsäckers "Vier Zeiten", die "Erinnerungen", die Ernst von Weizsäcker im Gefängnis schrieb oder das von Eckart Conze mitherausgegebene Standardwerk "Das Amt und die Vergangenheit - Deutsche Diplomaten im Dritten Reich"), führt er in atemberaubender Verdichtung jenen Moment vor Augen, in dem in Deutschland aus Wissenden angeblich Unwissende wurden, aus Mitverantwortlichen selbsterklärte "Briefträger in all den scheußlichen Angelegenheiten", aus Tätern sogenannte Widerständler.
Schley fiktionalisiert dabei natürlich auch, nimmt die Perspektive von "Richard" ein oder lässt "W.", den Vater, von sich selbst distanziert in der dritten Person sprechen. Aber er spart sich dabei alles Effekthascherische, bleibt unaufdringlich, beinahe diskret, was seinem Gegenstand entspricht: Das Pathos der Einfühlung ist Ernst und Richard von Weizsäcker gleichermaßen fremd. Pathetisch werden beide nur da, wo es um den Dichter Stefan George geht - aber dazu später. Im Roman erinnert sich der Sohn an einen Sommerurlaub seiner Kindheit in Tirol, wo der Vater mit ihm im Boot zur Mitte des Möserer Sees ruderte, in dem es Blutegel gab, und ihn dann aufforderte, allein bis ans Ufer zurückzuschwimmen: "Wie er weinte und bettelte, er könne doch gar nicht schwimmen, aber der Vater drohte, wenn du nicht schwimmst, holen dich die Ungeheuer des Sees. Wie die Dumpfheit unter Wasser ihn kurz umgab, als der Vater ihn hineinwarf, das Eintauchen in die Kälte. Wie die Schatten in der Tiefe an ihm zogen und ihn gleichzeitig trugen, während er panisch durch ein Glitzern strampelte, das die Sonne vor ihm ins Wasser schüttete." Das ist die Gefühlstemperatur zwischen den beiden, deren Schilderung Fridolin Schley in die Frage überführt, ob Richard tatsächlich in Nürnberg ist, um dem Vater das Leben zu retten, der Familie die Ehre? Oder weil er wissen möchte, wer sie beide sind? Es ist eine Frage, die er Richard sich selbst stellen lässt, ohne sie weiter zu verfolgen. Innensicht und Psychologie stehen nicht im Vordergrund von "Die Verteidigung".
Stattdessen geht es um das, was in den Dokumenten steht, die die Verteidigung vorbereiten und lesen muss. Um die Diplomatensprache des Vaters, die dem Sohn zugleich fremd und vertraut ist in ihrer kühlen Funktionalität, deren Amtsformulierungen oft eher etwas verschleiern als ausdrücken: "eine Sprache auf Stelzen". Vor allem analysiert Fridolin Schley die Strategie der Verteidigung, die Strategie Hellmut Beckers, dem Richard von Weizsäcker zur Seite steht. Der Anwalt Becker, ab 1. Mai 1937 NSDAP-Mitglied, war ein enger Freund der Weizsäcker-Familie und sollte in der Bundesrepublik als Bildungspolitiker noch groß Karriere machen. Der Anklage zufolge ist Weizsäcker in allen acht Punkten schuldig, darunter "Planung, Vorbereitung, Einleitung von Angriffskriegen" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Während der Sohn im Hintergrund bleibt, prescht Hellmut Becker selbstbewusst vor: "Wir glauben", sagt er in "Die Verteidigung" dem "hohen Gericht", "dass die Persönlichkeit selbst der Schlüssel zu den Dokumenten ist und nicht die Dokumente der Schlüssel zur Persönlichkeit. Unser Beweisvortrag zeigt Weizsäcker, wie er ist: ein Christ, ein Diplomat im besten Sinne des Wortes, ein wahrer Patriot."
Die Familie, glaubt Becker, sei sein Trumpf: Protestantendynastie, Staatsbeamte, den letzten Ministerpräsidenten des Königreichs Württemberg als Vater, der Großvater ein bedeutender Theologe - seit Generationen "Verantwortung, Redlichkeit und Pflichterfüllung" fürs Vaterland. Hellmut Becker sagt, dass Weizsäcker "sein Kleid der Diktatur anpassen musste, SS-Uniformen und Ehrendegen, um die geheimen Ziele zu erreichen, und die Welt ihm Dankbarkeit für dieses Opfer schulde, für den selbstlosen Kampf bis zum bitteren Ende". Und schon sehr bald das alles entscheidende Wort: "Widerstand". Es ist das Narrativ, dessen sich die Verteidigung bedient und das Fridolin Schley durch seinen Roman hindurch verfolgt: "Widerstand durch Mitmachen". Immer wieder fällt der Begriff, und das Buch macht sichtbar, wie allmählich ein Mythos entsteht.
In den Verhören führt der Ankläger Robert Kempner all das an, was Weizsäcker während seiner Amtszeit unterzeichnet hatte: Am 20. März 1942 antwortete der Leiter des "Judenreferats" im Auswärtigen Amt auf zwei Schreiben aus dem Reichssicherheitshauptamt, in denen Adolf Eichmann anfragte, "ob Bedenken gegen die Deportation von 6000 französischen und staatenlosen Juden in das Konzentrationslager Auschwitz" vorlägen. Staatssekretär Weizsäcker, rekapituliert der Roman, brachte noch zwei handschriftliche Änderungen an: "Statt keine Bedenken würde kein Einspruch gegen das Vorgehen erhoben; zudem habe es sich bei den 6000 um polizeilich näher charakterisierte Juden zu handeln." Die Verteidigung sieht darin "Indizien für einen verhaltenen Protest" Weizsäckers sowie den Versuch, den Kreis der zu deportierenden Juden zumindest einzugrenzen. Dagegen, heißt es bei Schley, erkannte die Anklage in den kleinen Korrekturen "gerade die Ignoranz einer verbrecherischen Bürokratie und den verbreiteten Antisemitismus einer alten Elite, die noch angesichts der Vernichtung zwischen guten und schlechten Juden unterschied".
1941 und 1942 waren Weizsäcker auch Berichte der Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion vorgelegt worden. Als Gesandter in Bern, wohin Hitler ihn nach einem persönlichen Gespräch gehen ließ, sah er in Thomas Manns Angriff auf die Nationalsozialisten aus dem Schweizer Exil einen Grund zur Ausbürgerung. "Mitgemacht", sagt Weizsäcker im Verhör der Anklage, sei nicht der richtige Ausdruck. "Ich habe nichts mitgemacht, ich habe einen Total-Widerstand geleistet, insgesamt bis an den Rand meiner Möglichkeiten. Das nenne ich nicht mitgemacht." Die Zitate entnimmt der Autor den Akten.
Fridolin Schley montiert das dokumentarische Material so, dass deutlich wird, was Ulrich Raulff bereits in seinem Buch "Kreis ohne Meister" über Hellmut Becker geschrieben hat: dass Becker seine Verteidigung nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Gerichtssaals führte. Dass er eine "Legion teilweise prominenter Zeugen", unter ihnen Carl Jakob Burckhardt und der norwegische Bischof Eivind Berggrav, aufmarschieren ließ, um in seinem großen Schlussplädoyer vor der These nicht zurückzuscheuen, "die konsequente Widerstandsarbeit von Herrn Weizsäcker" sei "in diesem Verfahren ... klar bewiesen worden". Gleich mehrere Seiten füllt Schley mit den Namen derer, die sich für Weizsäcker aussprachen: "Solche Zeitzeugenschaft, oft aus dem Kreis der Verfolgten, wog doch mehr als jedes Nachforschen!", heißt es im Roman, der auch den Austausch von Gefälligkeiten entlarvt. Der SS-Obergruppenführer Werner Best etwa entlastete die noch lebenden Beamten des Auswärtigen Amtes auf eine Weise, die neben Weizsäcker auch gleich ihn selbst als verdeckten Beschützer von Juden darstellte. Das war das "große Persilschein-Wesen", eifrig betrieben von der Verteidigung.
Das Urteil fällt milde aus, sieben Jahre. "Dass Weizsäcker sich dennoch wieder aufgerafft und aktiv an der Widerstandsbewegung gegen Hitler teilgenommen hat, steht für uns fest", sagt der Richter. Es ist der Sieg eines offensiv gespielten Narrativs, einer Kampftechnik, der Krieg geht für Becker im Gerichtssaal gewissermaßen weiter. Der Ankläger Robert Kempner sieht darin ein folgenschweres Signal: Jeder Beamte, selbst wenn ihm Beteiligung nachgewiesen werden konnte, würde sich auf ihn, der höher gestanden hatte, berufen können.
Und dann sind da bei Fridolin Schley noch auf jene, die die Widerstandsthese aus dem Gerichtssaal pathetisch mit nach draußen nehmen: "Ein Geist waberte durch die Verteidigung Ernst von Weizsäckers, beseelte ihren Widerstand wie eine von Ohr zu Ohr geflüsterte Losung: vom geheimen Deutschland", heißt es im Roman. "Alles hing zusammen": Robert Boehringer, der Freund des Vaters, der ihn in einem Gedicht nun zum Märtyrer stilisiert, hatte die Weizsäcker-Söhne früher mit zum Dichter Stefan George genommen. Richard war damals neun Jahre alt und schwer beeindruckt. Die Verpflichtung Hellmut Beckers als Verteidiger hing mit seiner Freundschaft zu Carl Friedrich von Weizsäcker ach mit dem George-Kreis zusammen. Richard hatte mit Claus von Stauffenberg 1942 über George gesprochen, vor militärischen Lageplänen stehend. Marion Gräfin Dönhoff, die beim George-Anhänger Edgar Salin promoviert hatte und auch in Nürnberg vor Ort war, schrieb in ihren Artikeln in der Wochenzeitung Die Zeit, man habe es satt, dass Männer wie Weizsäcker, die gegen die Nazis ihr Leben riskiert hätten, von alliierten Gerichten verurteilt würden. Sie alle spielten Ernst von Weizsäcker im hohen George-Ton eine heldenhafte, der Zeit enthobene Rolle zu - und damit zugleich sich selbst.
Ganz am Anfang seines in seiner sprachlichen Zurückgenommenheit umwerfenden und in seiner Verdichtung eindrucksvollen Romans kommt Fridolin Schley auf die Rede zu sprechen, die der Sohn Richard am 8. Mai 1985 als Bundespräsident halten wird. Es ist jene Rede, in der er dazu aufforderte, "der Wahrheit ins Auge zu sehen", und klarstellte, dass demjenigen, der "seine Augen und Ohren aufmachte", nicht hatte entgehen können, "dass die Deportationszüge rollten". Richard von Weizsäcker ist für diese Rede sehr gefeiert worden. Warum, fragt man sich nach der Lektüre von "Die Verteidigung", hat er fast vierzig Jahre gebraucht, um diese Worte zu finden? JULIA ENCKE.
Fridolin Schley: "Die Verteidigung". Roman. Verlag Hanser Berlin. 270 Seiten, 24 Euro (erscheint am 23. August).
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