Besprechung vom 09.01.2022
Auf Wegen durch die Stadt genährte Tagträume
Die Neuentdeckung eines russischen Stars geht weiter: Wer die Erzählungen von Gaito Gasdanow liest, entstanden in dessen Pariser Exiljahren, der fragt sich, wer noch mal Joyce oder Proust gewesen sind.
Wer noch nach einem Buch sucht für die langen, kalten, dunklen Wochen des neuen Jahres, nach einem Begleiter, der wie ein im Zimmer aufgestellter Samowar tröstet und wärmt und eine melancholisch-sehnsuchtsvolle Geselligkeit schenkt, greife zu Gaito Gasdanows Band mit Erzählungen, "Schwarze Schwäne".
Seit Rosemarie Tietze in den zurückliegenden zehn Jahren drei Romane und eine Novelle von Gasdanow übersetzt hat, wird der russische Autor auch im deutschsprachigen Publikum bekannter. Wer einmal in einen seiner Romane eingetaucht ist, in diese einzigartig traurige, nie sentimentale, immer klare, leichte Sprache, wird auch diesen neuen Erzählungsband wie einen Schatz nach Hause tragen. Und kurz innehalten, wie im Theater, bevor der Vorhang sich öffnet, ehe er oder sie die erste Seite aufschlägt und zu lesen beginnt, und dann mit Leib und Seele sich einlassen. Den Auftakt des neuen Bands macht "Genossin Brack", eine wundersame Geschichte aus dem russischen Bürgerkrieg.
Gasdanows Leben war schwer und entbehrungsreich. 1903 wurde der Schriftsteller in Sankt Petersburg geboren, lebte in Sibirien, in Twer und in der Ukraine, wo er eine Kadettenschule besuchte. Mit knapp sechzehn Jahren trat er während des russischen Bürgerkriegs in einen Verband der Weißen ein; nach dem Sieg der Roten Armee verschlug es ihn von der Krim in die Türkei, schließlich nach Bulgarien, wo er in einem eigens für russische Flüchtlinge eingerichteten Gymnasium sein Abitur ablegte. 1923 kam er nach Paris, einer von Hunderttausenden russischen Emigranten, die sich dort durchzuschlagen versuchten, mit Gelegenheitsjobs, als Kriminelle; viele waren obdachlos oder Clochards.
Gaito Gasdanow war also einer von ihnen. Er war Lastenträger, Lokomotivenwäscher, Mechaniker bei Citroën, dann fuhr er viele Jahre lang nachts Taxi.
Nebenher studierte er an der Sorbonne. Er las und schrieb wie ein Besessener. Seine ersten Texte, die dann gegen Ende der Zwanzigerjahre in Zeitungen und Zeitschriften der russischen Emigration erschienen, brachten ihm sofort Anerkennung ein, aber wenig Geld. Gestorben ist er 1971 in München.
Die neun Erzählungen, die Rosemarie Tietze aus den mehr als fünfzig der russischen Gasdanow-Gesamtausgabe ausgewählt hat, entstanden, mit Ausnahme der letzten, "Eine Seelenmesse", in diesen schweren Jahren des Pariser Exils zwischen den beiden Weltkriegen.
Sie sind allesamt kleine Meisterwerke. Das Wunder dieser Erzählungen ist die Verbindung aus dem, was den Zauber, den Irrsinn, die totale seelische Fremdheit der russischen Literatur für den westeuropäischen Leser ausmacht, mit dem Besten der grotesk-absurden, impressionistischen, existenzialistischen Moderne, wie sie mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Literaturen von Irland bis Galizien entstand. Gasdanow hatte seit frühester Kindheit Gogol, Dostojewski, Tolstoi und Tschechow in sich eingesaugt, dazu die hierzulande wenig bekannte russische Lyrik; und ebenso hatte er dann, im Pariser Exil, Joyce, Kafka, Proust, Céline studiert. Allmählich entwickelte und komponierte er aus beiden Strömen seine ganz eigene Art des stream of consciousness.
Denn Gasdanow erzählt weder chronologisch, noch gibt es bei ihm einen verlässlichen Erzähler, der die Vorkommnisse ordnet und uns Leserinnen und Lesern aus sicherem Abstand eine Story präsentiert.
Vielmehr mischt ein Ich-Erzähler - der sich vom eigentlichen Geschehen abseits hält und nur schemenhaft sichtbar wird - eigene Reflexionen, Erinnerungen und Assoziationen mit denen seiner Figuren, an deren Schicksal er mit Herz und Verstand Anteil nimmt. Dazu streut er fragmentarische Szenen und Dialoge ein. Aus dem Gewebe aus Stimmen, Charakteren und Szenerien treten allmählich die entscheidenden Momente im Leben eines Menschen hervor, seine nur ihm eigentümlichen Eigenschaften und Vorlieben, Stimmungen, es sind in Worten gemalte Porträts, die zu bestimmen versuchen, was einen Menschen zu diesem einen, besonderen macht, wie er eingefügt ist in die Beziehungen zu anderen, ihm Nahestehenden, die er liebt oder verabscheut, hasst oder begehrt - nicht selten alles gleichzeitig.
Gasdanows Erzählungen wirken autobiografisch grundiert. Sie sind aber zugleich so künstlich, so stilisiert, dass man sie unmöglich mit dem Leben verwechseln kann. Trotz der vielen Abschweifungen ist kein Wort überflüssig, alle Sätze, alle Szenen sind vielmehr Bausteine, die, zusammengefügt, das Essentielle der Epoche und der in ihr verloren gegangenen Generation einfangen.
Eine Generation, die verinnerlicht hat, dass Leiden zum Leben gehört, dass das Leben vielleicht vor allem Leiden ist. Sie lügen, stehlen, prostituieren sich, sind alles andere als Heilige. Doch trotz ihrer miserablen Lebensumstände und ihrer maßlosen Enttäuschung treten sie nie als Opfer auf. Sie bewahren, gleich, was ihnen zustößt, eine unerschütterliche Haltung und Würde.
Von Unglücklichen erzählt Gasdanow, die noch unglücklicher werden, wenn ihre Wünsche und Träume doch in Erfüllung gehen - denn keine Erfüllung ihrer Wünsche könnte je an die über viele Jahre gehegten phantastischen Vorstellungen heranreichen, an die auf langen Gängen durch die Stadt genährten Tagträume.
Werden diese Unglücklichen aus ihren Illusionen gerissen, verlieren sie die in ihrem Innersten bewahrte, vor allen verborgene ideale Welt der Liebe, des Reichtums, des Ruhms. Das gewonnene Glück schmeckt dagegen schal, ist die größte, grausamste Enttäuschung, die den Entwurzelten das letzte Stückchen Boden unter den durchlöcherten Schuhsohlen wegzieht. Im Exil erfährt alles Bekannte, Vertraute eine Verwandlung: Die Menschen, mit denen man früher zusammenlebte, erkennt man kaum wieder; das Essen, nach alten Rezepten zubereitet, schmeckt nicht mehr; die eigene Sprache, umgeben vom französischen Idiom, klingt falsch. Kein erreichtes, erreichbares Glück macht den erlittenen Verlust wett, den Verlust der Heimat und den der geliebten Menschen.
Gaito Gasdanows große Kunst ist, das Wesentliche zu zeigen, ohne es direkt zu benennen (wodurch dieses Wesentliche sofort banalisiert würde). Er erschafft eine Welt, die es, vielleicht, in der Realität nie gegeben hat, die aber in seiner Seele existiert und wahrer ist als das, was wir täglich in der Zeitung lesen.
Seine Erzählungen sind traurige, wehmütige, absurde Märchen, die noch lange nach dem Lesen in einem leben, von denen Bruchstücke in die nächtlichen Träume wandern, die einem urplötzlich einfallen, wenn man mit einem Unbekannten spricht oder auf einer Parkbank sitzt oder mit der Straßenbahn durch die späte Nacht fährt und auf die Lichter der Stadt schaut. Sie werden zu einem Teil der eigenen inneren Wirklichkeit und strahlen in das gelebte Leben aus. Was lässt sich Schöneres über die Kunst eines Autors sagen? BETTINA HARTZ.
Gaito Gasdanow: "Schwarze Schwäne". Ausgewählt, aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze. Hanser Verlag, 271 Seiten
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