Besprechung vom 03.11.2022
Mit Tschechow lernen, das Leid zu lieben
Zeit der Angst, Zeit der Freude? Gary Shteyngarts amerikanischer Gesellschaftsroman "Landpartie" fragt, was uns die Pandemie gewesen sein wird.
Die ersten Tage und Wochen des Lockdowns im März, April 2020 - sie muten aus der Rückschau fast unwirklich an. Die leeren Straßen der Stadt. Die rasch mit Absperrband versehenen Spielgeräte im Park. In den Fenstern die von Kinderhand gebastelten Regenbögen: Alles wird gut! (Oder gab es sie erst später?) Und alles getaucht in ein ungewohnt gleißendes Frühjahrslicht, das durch die noch blätterlosen Bäume fiel. Die Erinnerung an diese Zeit ist ein unzuverlässig erzählter Film, der nicht klar unterscheidet zwischen realer und vorgestellter Welt und dessen finaler Schnitt weiterhin aussteht.
Umso eigenartiger ist es, bereits heute Romane zu lesen, die nicht nur während des Lockdowns entstanden sind, sondern diesen selbst thematisieren - wie zum Beispiel Gary Shteyngarts "Landpartie". Eigenartig, weil sich die noch nicht verfestigte Erinnerung mit der literarischen Darstellung verbindet. Wenn ich lese, wie Shteyngarts Protagonist in Anwesenheit seiner hochsensiblen Tochter über den pandemischen Ausnahmezustand spricht ("eine Zeit der Angst"), während ihn seine Frau mit strengem Blick ermahnt, nicht zu drastisch vor dem Kind zu sprechen (weshalb er sogleich ergänzt: "aber auch eine Zeit der Freude") - wenn ich diese komische Passage lese, komme ich nicht umhin, daran zu denken, wie ich mich selbst in einer ähnlichen Situation befand. Und es ist gut möglich, dass in einiger Zeit, wenn ich von dieser Erfahrung berichten möchte, Shteyngarts Romanszene zu meiner eigenen Anekdote wird. Gerade so entsteht vermutlich "Geschichte": durch die Verbindung individueller Erfahrungen zu einer überindividuellen Erzählung.
"Landpartie" handelt von einer aus Freunden und Bekannten zusammengesetzten Gruppe, die sich mit Beginn der Pandemie in das außerhalb von New York gelegene Landhaus des russischstämmigen Schriftstellers Sasha Senderovsky und seiner Familie zurückzieht. Sie alle sind hochidiosynkratische Individuen, und fast alle entstammen einem "Immigranten-Mischmasch": Karen Cho arbeitet im Silicon Valley und hat eine erfolgreiche Dating-App namens "Tröö Emotions" entwickelt; Vinod Mehta war einmal außerordentlicher Professor an einem New Yorker College, bevor er an Krebs erkrankte, seinen Job verlor und als Koch in einem Fast-Food-Restaurant in Queens anheuern musste; und Dee Cameron ist die Autorin einer viel gelesenen Essaysammlung mit dem aufmunternden Titel "Wie man sich selbst Steine in die Welt legt und kapituliert". Hinzu kommen noch ein paar Figuren, darunter ein Schauspieler, den der Gastgeber für eines seiner Drehbücher gewinnen will und der nicht nur von der ganzen Film- und Fernsehnation angehimmelt wird, sondern auch von Masha, Senderovskys Ehefrau.
Der Roman entwickelt keine geschlossene Erzählung, sondern schildert ein Sozialexperiment in vielfältigsten Episoden. Sein Witz besteht darin, ausgerechnet solche Charaktere zusammenzuführen, die sich normalerweise als superindividuell und komplett autonom begreifen, aber von nun an irgendwie miteinander auskommen müssen. Zunächst geht das auch gut: Man führt stundenlange Gespräche und kocht aufwendige Pastagerichte, während im Hintergrund die Lieder von Caetano Veloso erklingen. Vor allem aber kommt es zu mehreren, teils erotischen Verwicklungen zwischen "unseren Freunden auf dem Lande" (so lautet der wohl bewusst etwas zu betuliche Originaltitel des Romans: "Our Country Friends"). Etwa beginnen Dee und der Schauspieler eine Liaison, nachdem sie unversehens durch Karens Dating-App miteinander verkuppelt worden sind. Dies wiederum hält den "größten Mimen" der Welt, von dem einmal in der fernen "Neuen Zürcher Zeitung" die Rede war, mitnichten davon ab, sich einer intimen Waschung durch Masha zu unterziehen. So geht es über die ersten zweihundert Seiten weiter - burlesk, verspielt, intensiv.
Aber natürlich bleibt es nicht dabei. So machen sich nicht nur zunehmend "Schuldgefühle" in der Kolonie breit, immerhin sterben "in der City" immer mehr Menschen am Virus. Außerdem stellt sich mit der Zeit eine gewisse Gereiztheit ein, weshalb das Setting des Romans auch eher an den "Zauberberg" erinnert als an das "Decamerone". Am Ende ist gar die Rede vom kompletten Scheitern des Zusammenlebens, ja von einem "Scherbenhaufen", zumal es mittlerweile doch einige Infizierte und Erkrankte unter den Bewohnern gibt: "Es hat Spaß gemacht, als wir alle zum Essen an einem Tisch zusammenkamen, aber jetzt, wo wir alle in Quarantäne sind?"
Nicht zuletzt tragen die dramatischen Entwicklungen in der Außenwelt, mit der man vornehmlich über digitale Kanäle in Verbindung steht, zu jener Gereiztheit bei. Während sich im Land die Leichen stapeln und von Kühllastern von Süden nach Westen transportiert werden, zeichnet sich nämlich mehr und mehr ab, dass der (nicht nur) am Pandemiemanagement scheiternde Präsident "seine Macht vielleicht niemals abtreten würde". Gefährlicher noch werden Karen und Sashas Adoptivtochter Nat, die beide koreanische Wurzeln haben, in die gesellschaftlichen Verwerfungen hineingezogen: Als den beiden auf einem Spaziergang ein Pick-up-Truck bedrohlich nahe kommt, führt man dies später auf die "doppelte Bedrohung" zurück, die man für den Fahrer offenbar dargestellt habe: "eine Asiatin und ein asiatisches Mädchen, die beide Maske trugen, und das zu einer Zeit, da Leute, die schwarz-blaue Fahnen zu Ehren der Polizei aufzogen, solche Menschen in aller Regel hassten". "Zu einer Zeit", das meint den hocherregten gesellschaftlichen Zustand infolge des Mordes an George Floyd. Shteyngarts Kammerspiel wird hier zum Gesellschaftsroman, allerdings ohne den überspannten Anspruch einer Great American Novel.
Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die literarischen Bezugsgrößen Shteyngarts - 1972 in St. Petersburg geboren, in frühen Jahren mit den Eltern in die USA emigriert und bekannt geworden mit einem "Handbuch für den russischen Debütanten" - nicht in erster Linie in der amerikanischen Literatur zu suchen sind. Stattdessen finden sich zahlreiche Referenzen auf Werke Anton Tschechows, besonders auf das Schauspiel "Onkel Wanja", das die Freunde auf die Wohnzimmerbühne bringen. Die Welt Tschechows dient Shteyngarts Charakteren als Projektionsfläche, wobei ihre tiefexistenzielle Gestimmtheit nicht ohne Komik ist: Die Tschechow'schen Stücke seien ganz frei von "schneidenden Persönlichkeiten", räsoniert eine der Figuren ernst vor sich hin, es gebe in ihnen nur "verschwindende Horizonte, nur verwilderte Wiesen, von denen man nach oben schauen und versuchen konnte, in Dunst gehüllte Landschaften zu erkennen". Doch, so lässt es sich genießen, das Leid.
Shteyngart schreibt Gegenwartsliteratur im besten, stärksten Sinne, indem er gar nicht erst so tut, als sei es bereits an der Zeit für gut abgehangene Deutungen und klare Urteile. "Landpartie" erzählt von Menschen, die versuchen, sich irgendwie einen Reim auf all die Merkwürdigkeiten zu machen, die in ihnen und um sie herum geschehen. Gerade das macht den Roman trotz seines ernsten Sujets so erfrischend und aufrichtig: Er gibt nicht Meinungen (schon das Wort will man ja eigentlich nicht mehr hören), sondern Erfahrungen den Vorrang, die wir Leser mit unserem eigenen Erlebten in Verbindung bringen können. Der Weg zu dem, was die Pandemie für uns einmal gewesen sein wird, zu einer mehr oder weniger einheitlichen Kollektiverzählung also, lässt sich in Shteyngarts Roman und zugleich in dessen Lektüre mitverfolgen. Es ist eine Literatur in Annäherung an das zweite Futur. KAI SINA
Gary Shteyngart: "Landpartie". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Penguin Verlag, München 2022. 480 S., geb.
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