Besprechung vom 10.10.2020
Revolutionen liegen in der Luft
Eine Kette gerade noch bewältigter Krisen: Geert Mak kehrt zurück an die Orte früherer Reisen und schreibt die Geschichte Europas in diesem Jahrhundert.
Von Jürgen Osterhammel
Im Jahr 1999 war Geert Mak im Auftrag des "NRC Handelsblad" ein Jahr lang durch Europa gereist und hatte jeden Tag von unterwegs eine Kolumne geschickt. Das, was er als "eine abschließende Inspektion" des Kontinents an der Schwelle zum 21. Jahrhundert verstand, erschien dann 2004 als Buch, noch im selben Jahr in einer gekürzten deutschen Übersetzung ("In Europa - Eine Reise durch das 20. Jahrhundert"). Mak hat seither mit dem Reisen nicht aufgehört. Er ist an bekannte Orte zurückgekehrt, hat alte Freunde besucht und neue gewonnen. Vor allem hat er das Tagesgeschehen verfolgt und viel zeitgeschichtliche Literatur gelesen.
Alle Ingredienzien, die Bewunderer Maks aus früheren Büchern des Autors kennen, finden sich in "Große Erwartungen" in einem neuen Mischungsverhältnis. Die Reisereportage tritt zurück, biographische Vignetten werden seltener, historische Erzählung und Analyse dafür schon nach der Seitenzahl dominant. Die Aufmerksamkeit wandert von Räumen zu dem, was sich in ihnen abspielt, vom Alltag zur Politik, die wiederum zum Schicksal des Alltags wird.
Geert Mak schreibt materialkundig und pointenstark eine allerneueste Zeitgeschichte Europas, also die Geschichte einer Kurzepoche, an die sich die meisten seiner Leserinnen und Leser unmittelbar erinnern. Das führt manchmal zu einem unvermeidlich engen Einverständnis zwischen dem Historiker und seinem Publikum: Mehrheitlich dürfte es Putin und Orbán, Boris Johnson und Trump (ja, auch er ein Prägefaktor Europas!) ebenso entsetzlich finden, wie der vernünftige und humane Niederländer es tut. Da aber Geert Mak kein Prediger und Geschichtsbildvermarkter ist, sondern aufgeschlossen für Ambivalenz und Zwischentöne, bleibt genug Distanz zu seinen sanften Suggestionen, die er meist sorgfältig mit Zitaten und Zahlen belegt.
Kaum war das Buch im vergangenen Herbst erschienen, da wurde aus dem Jahr 2019 das "1913" des frühen 21. Jahrhunderts: der Vorabend einer großen Katastrophe. Die Übersetzung konnte zum Glück Geert Maks Ende April 2020 geschriebene Gedanken zur Corona-Pandemie einbeziehen. Mak sagt nichts grundsätzlich Neues. Wer tut das in diesen Tagen schon? Doch ihm gelingt eine gute Zwischenbilanz entlang des zentralen Motivs von Zeit und Geschwindigkeit. Die vielberufene Beschleunigung des sozialen Lebens ist in den abrupten Stillstand gekippt, die Städte Europas liegen im "künstlichen Koma". Zugleich beschleunigt sich die Erderwärmung.
Während (einige) Regierungen in Asien, Afrika und Ozeanien (Neuseeland) auf den Beginn der Gesundheitskrise rasch und erfolgreich reagierten, fehlte in Europa ein zureichendes Gefahrenbewusstsein. Experten hatten seit langem vor einer Pandemie gewarnt, und der Kontinent musste spätestens seit Tschernobyl 1986 mit dem Schlimmsten rechnen. Doch man war mental und materiell unvorbereitet. Nach den Schreckensnachrichten aus Wuhan wurden Zeitfenster nicht genutzt. Die Vollbremsung der verschiedenen nationalen und lokalen Lockdowns war eine Folge vorausgegangener Verschleppung. Auch wurde das Tempo, mit dem sich das Virus verbreitete, dramatisch unterschätzt: Europa wirkte im Februar wie ein unbeteiligter Zuschauer der Ereignisse in China. Als dann in der Lombardei die Krankenhäuser überrannt wurden, fühlte man sich in den Niederlanden oder Großbritannien zunächst wenig betroffen. Kostbare Zeit wurde leichtfertig verspielt. Nach den panikgetriebenen Grenzschließungen durch nationale Exekutivbeschlüsse blieb europäische Koordination zu lange aus.
Besitzt Europa noch genug von den Ressourcen, von denen es bisher immer noch zehren konnte: Vertrauen und Solidarität? Seine moderat pessimistische Stimmung lässt Geert Mak nicht zu selbstbewussten Prognosen gerinnen. Auch vermeidet er Klagen über die Missachtung europäischer Werte. Wichtiger ist ihm ein Bild, das er für die aktuelle Erfahrung mit Vergangenheit findet: Er hat das Gefühl, "am Rand einer Gracht in Amsterdam zu stehen, die gerade leergepumpt wurde". Da kommen nun die Spuren früherer Zeiten zum Vorschein: Müll, Unerledigtes, der Schrott abgebrochener Projekte, beispielsweise "die Folgen all der Sparmaßnahmen, die jahrelang das Gesundheitswesen heimgesucht hatten". Immerhin besteht Hoffnung, dass daraus Lehren gezogen werden könnten: mehr nachhaltiges Wirtschaften und Reisen, mehr Nachbarschaftsinitiativen. Es liegen "Revolutionen in der Luft", und die Zähmung des Neoliberalismus steht auf der Tagesordnung.
Auch dieses Buch verweigert die allenthalben gesuchte "europäische Erzählung". Anderswo sind solche Erzählungen offizielle Politik. China bekommt seinen nationalistischen "Traum" - so heißt es dort seit 2012 amtlich - der expansiven "Größe" von oben verordnet. In Russland, der Türkei und England träumt man sich in die Wiedererweckung untergegangener Imperien hinein. In den Vereinigten Staaten kollidieren Träume von "white supremacy" und "racial justice". In Indien und Teilen der islamischen Welt phantasiert man von religiöser Homogenität und Reinheit. Und Europa? Wenn ihm doch wenigstens ein Träumchen bliebe.
Mak schreibt die Geschichte Europas seit 1999 als eine Kette von Krisenbewältigungsversuchen, die meisten irgendwie erfolgreich, manchmal um Haaresbreite. Plötzlich ist die Krise da, kaum jemand hat sie erwartet: Lehman Brothers, Flüchtlinge vor Lampedusa und auf dem Balkan, das Brexit-Referendum und viele andere mehr. Dann wird in den politischen Notfallmodus geschaltet und improvisiert.
Die chronologisch geordneten, durch "Intermezzi" aufgelockerten Kapitel des Buches werden den Besonderheiten der einzelnen historischen Situationen gerecht und lassen sich auf nationale Spezifika ein. Die Urteile über einzelne Akteure sind unverblümt, Verallgemeinerungen jedoch vorsichtig und nuanciert. Aus dem Innenleben des Brüsseler Apparats werden Absonderlichkeiten einer Blasenexistenz mitgeteilt, doch überwiegt die Anerkennung für den Sachverstand der Eurokraten und den Sinn ihres regelnden Tuns. Weniger "Brüssel" als nationale Interessenpolitik hat Probleme hervorgerufen und die Reaktion auf unerwartete Herausforderungen erschwert.
Geert Mak ist kein glühender Europäer, sondern ein melancholischer. Er berichtet von der Kontraktion der europäischen Seele. Aus den großen Erwartungen der Jahrhundertwende, der Vision eines kosmopolitischen Kaffeehauses Europa, ist ein ängstliches Verlangen nach einer Heimat geworden, "die es so in Wirklichkeit nie gegeben hatte". Zwischen Traum und Albtraum wälzt sich Europa in unruhigem Schlaf.
Geert Mak: "Große Erwartungen". Auf den Spuren des europäischen Traums (1999-2019).
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke.
Siedler Verlag, München 2020. 640 S., Abb., geb.
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