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Besprechung vom 17.11.2022
Fließende Geschlechteridentitäten? Alter Hut!
In Frankreich blühte das Genre schon vor zweihundert Jahren: Ein besonders gelungener Roman daraus ist George Sands "Gabriel"
Fließende Geschlechteridentitäten waren einst ein reizvolles literarisches Spiel, und die französische Literatur der Dreißigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts hat es darin zur Meisterschaft gebracht. Am bekanntesten ist Honoré de Balzacs Novelle "Sarrasine" (1830), die von der leidenschaftlichen Liebe zu einem Kastraten erzählt; Roland Barthes hat ihr seine Studie "S/Z" gewidmet. Théophile Gautiers Roman "Mademoiselle de Maupin" (1835) ist nicht nur wegen des Vorworts, das die "L'art pour l'art"-These verteidigt, bekannt; er entwickelt ein reizvolles Spiel um die Identität einer jungen Frau, die sich als Mann ausgibt. In der Reihe fehlt noch ein weiblicher Beitrag, und den hat George Sand 1839 mit "Gabriel", einem "Dialogroman", geleistet.
"Gabriel" erzählt von einer jungen Frau, die als adeliger Erbe herangezogen wird. Setting ist Italien, vermutlich in der Renaissance. Strippenzieher ist Gabriels Großvater, Fürst von Bramante: Ziel seines Manövers ist es, Astolphe, den zweiten Enkel und nichtsnutzigen Sohn eines ungeliebten Nachkommen, um sein Erbe zu bringen. Als Gabriel siebzehn Jahre alt ist, informiert der Fürst ihn über sein Geschlecht und stellt "dieses merkwürdige Geschöpf" vor die Wahl, ein herrschaftliches Leben als Mann oder eine Klosterexistenz als Frau zu führen. Verwirrt flieht Gabriel und trifft in einer Spelunke den Cousin Astolphe; sie rettet ihn vor Halsabschneidern - und verliebt sich. Als Gabriel sich bei einem Kostümball als Frau "verkleidet", gerät auch Astolphe durcheinander; schließlich entdeckt er, dass Gabriel in Wahrheit Gabrielle ist. Cousin und Cousine werden ein Paar, verbringen eine Hälfte des Jahres auf dem Land, die andere in der Stadt; in der Öffentlichkeit ist Gabriel Mann, privat Frau. Astolphe schwankt zwischen der Faszination für die Geliebte in männlicher Verkleidung und der eifersüchtigen Furcht, man könne sie ihm streitig machen. Gabriel lehnt Besitzdenken und Ehewünsche als "Tyrannei" ab, die Liebe schwindet. Währenddessen hat der Großvater seine Schergen auf sie angesetzt. Im römischen Karneval kommen die Ereignisse zu ihrem tragischen Ende.
Im Kern steht neben der Identitätsfrage die der großen Liebe. Gabriel - im Gedanken "der ruhmreichen Stellung des Mannes und von der Schmach der weiblichen Rolle in Natur und Gesellschaft" groß geworden - vertritt zugleich eine idealistische Liebesvorstellung, der Astolphe nicht gerecht zu werden vermag: "Ich will dich heilig lieben und dich in meiner Seele neben die Idee Gottes stellen, neben das Streben nach Vollkommenheit." So romantisch, so gut. Spannender ist das "naturphilosophische Experiment" selbst, das eine Frau zum Mann erzieht: "Und, was haben Sie herausgefunden? Dass eine Frau durch Erziehung genauso viel Logik, Erkenntnis und Mut erwerben kann wie ein Mann. Doch Sie konnten nicht verhindern, dass sie ein empfindsameres Herz hat und dass bei ihr die Liebe über die Hirngespinste des Ehrgeizes triumphiert."
Was Astolphe dem Präzeptor vorwirft, scheint das Ideal Sands darzustellen: die Kombination männlicher Freiheit und Willenskraft mit weiblicher Herzensreinheit. George Sand (1804 bis 1876), geborene Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, eine Nachfahrin von August dem Starken, war selbst so frei, sich ein männliches Pseudonym zuzulegen und während ihrer Parisaufenthalte in Männerkleidung durch die Stadt zu gehen, um ungestört rauchen zu können. Sie verkehrte in Literatenzirkeln als Gleichberechtigte und trotzte dem starken Geschlecht Privilegien ab, etwa das, neben Männern - darunter Alfred de Musset und Frédéric Chopin - auch Frauen zu lieben. Gustave Flaubert nannte sie in seinen Briefen treffend "chère maître", "liebe Meister".
Das größte Privileg freilich war, als Frau des neunzehnten Jahrhunderts gut von ihrer Feder leben zu können. Sand schuf ein riesiges Werk, allein mehr als sechzig Romane, und platzierte es in zentralen Organen: "Gabriel" etwa, von der Vierunddreißigjährigen rasch in einem Gasthof inmitten spielender Kinder verfasst, erschien in der "Revue des Deux Mondes". Diesen biographischen und den Epochenkontext liefert das Nachwort von Walburga Hülk. Interessant wäre ein Wort zur deutschen Rezeption gewesen, schließlich wurde der Text schon 1840 von Ernst Susemihl übertragen (für Kollmann, Leipzig) - anders als vom Verlag behauptet, handelt es sich bei Elsbeth Rankes Übersetzung also nicht um die erste.
Die Infragestellung geschlechtlicher Identitäten gerade unter Rückgriff auf ein romantisches Standardvokabular, das 1839 längst zu erstarren drohte, trägt wesentlich zur Eigenart dieses konzentrierten Textes bei. Ein weiterer Punkt sind die burlesken Szenen, die sich aus den wankenden Rollenbildern ergeben - gern sieht man gestandene Mannsbilder wie Astolphes Rivalen Antonio vom Zweifel zerzaust. Nicht zuletzt macht die eigenwillige Form den Text für die Heutigen attraktiv: Der "Dialogroman" ist von seiner Anlage als Wechselrede her dramatisch; kurze Szenenangaben verstärken die Bühnentauglichkeit. Hinzu kommt eine Struktur in fünf Teilen, denen ein Prolog vorausgeht - die klassische Dramenform klingt an.
Die Behandlung von Ort und Zeit ist zwar großzügig, die Handlung erstreckt sich über Jahre, und es wird großzügig von Ort zu Ort gesprungen; aber all das war seit der Schlacht von "Hernani" (1830) und dem Sieg des romantischen Theaters gang und gäbe. Tatsächlich hat Sand von "Gabriel" später, nämlich 1852, eine illustrierte Bühnenfassung erstellt - die jedoch von den Theatern abgelehnt wurde. Das mag Sand geschmerzt haben, waren doch im Jahrhundert des Romans nach wie vor aller Augen auf die Bühne gerichtet. Vieles spricht dafür, dieses Versäumnis heute nachzuholen. Gern auch in Deutschland: Rankes Fassung trifft den idealisch-virilen Ton Sands wunderbar. NIKLAS BENDER
George Sand: "Gabriel". Ein Dialogroman.
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Nachwort von Walburga Hülk. Reclam, Ditzingen 2022. 176 S., geb.
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