»Vom Nichts geht man in der Literatur zum Mittleren und zum Wahren über und sodann zur Verfeinerung: Es existiert kein Beispiel dafür, dass man von dort aus wieder zum Wahren zurückgekehrt wäre. « Mit diesem Gedanken beendet Giacomo Leopardi 1817 die erste Seite seines heimlichen Notizbuchs, des »Zibaldone di pensieri«. Bei seinem Abschluss fünfzehn Jahre später ist daraus ein Buch ohne Vorbild geworden, das sich jeder Gattung entzieht - und mit über 4500 Seiten ein »Sammelsurium« der Maßlosigkeit. Im Zibaldone fand der junge und genialische Leopardi zu einem »dichtenden Denken«, das den Kosmos des 19. Jahrhunderts in sich birgt - und weit über die Vorstellungswelt seiner Zeit hinausweist.
Erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt von Daniel Creutz, mit einer Einleitung und einem Kommentar von Franco D'Intino, von Cornelia Klettke ediert und mit einem Essay zur deutschen Leopardi-Rezeption versehen, lesen wir das dicht gesponnene Hauptwerk eines der wichtigsten europäischen Denker der Moderne.
Besprechung vom 12.10.2024
Zurück zur Natur
Was ein alter italienischer Autor sagt, ist wahr: Die erste Komplettübersetzung von Giacomo Leopardis "Zibaldone" ins Deutsche bringt ein Wunderbuch ins einundzwanzigste Jahrhundert - eines zum Be- wie zum Verwundern.
Von Andreas Platthaus
Von Andreas Platthaus
Italien ist das Gastland der am kommenden Mittwoch öffnenden Frankfurter Buchmesse, doch wenn man dem wichtigsten italienischen Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, Giacomo Leopardi, glaubt, dann erwartet uns eine Leichenbesichtigung: "Alle italienischen literarischen Werke von heute sind unbeseelt, blutleer, ohne Bewegung, ohne Wärme, ohne Leben", schrieb er am 8. März 1821 in sein Arbeitsjournal, den legendären "Zibaldone".
Nun könnte man diese Fundamentalkritik abtun als eine ja mehr als zweihundert Jahre alte Augenblicksaufnahme, aber Leopardi - und das macht ihn unverändert interessant, ja brisant - hatte einen Zeithorizont, der sehr weit zurück- und auch etliche Generationen vorausreichte. Schnelle Abhilfe für die italienische Literatur sah er nicht, und in seiner an antiken Vorbildern und solchen des Cinquecento geschulten Perspektive waren zwei Jahrhunderte nur ein Wimpernschlag der Literaturgeschichte. Und mit der ging es für Leopardi eh bergab.
Ein paar Tage nach seiner Abfertigung der einheimischen Kollegen kam er im "Zibaldone" im selben Kontext aber auf jene beiden Nationalliteraturen zu sprechen, die er gerade blühen sah: die französische und die deutsche. Die Sprache der Ersteren war zwar gar nicht nach Leopardis Geschmack, der Französisch fließend beherrschte, es aber gegenüber dem Italienischen (in dessen seit dem vierzehnten Jahrhundert durch Dante, Petrarca und Boccaccio etablierter toskanischer Ausprägung) für weit unterlegen hielt - wie auch Stil sowie Themen der französischen Literatur für ihn zu wenig abwechslungsreich waren. Doch die französische Literatur, so Leopardi, profitiere vom Erfindungsreichtum ihrer Autoren. Während sich die Italiener des eigenen überreichen Spracherbes beim Beschreiben der Gegenwart nicht ausreichend neu bedienten, sondern lieber Termini aus anderen Sprachen übernähmen, gelinge es den Franzosen, die eigenen Quellen anzuzapfen: Ihre Sprache wachse "jeden Tag an Wörtern" - und eben nicht an Fremdwörtern.
Die zweite von Leopardi bewunderte Gegenwartsliteratur dagegen profitiere von der schieren Masse ihrer Autoren und Themen: "Die deutsche Sprache, die über so viele Jahrhunderte hinweg ohnmächtig und bescheiden blieb, obgleich sie von einer so großen und ausgedehnten Vielzahl von Völkern gesprochen wurde, ist nur deshalb, weil sie im letzten Jahrhundert und in den wenigen Jahren von diesem eine ungeheure Fülle und Vielfalt von Schriftstellern besaß, zu einem so hohen Grad an Fähigkeit und Reichtum und Kraft aufgestiegen." Wobei das Ausmaß von Leopardis Deutschkenntnissen umstritten ist; ein erklärtes Lieblingsbuch wie Goethes "Werther" las er nur in italienischer Übersetzung und zitiert es dementsprechend meist italianisiert als "Verter".
Das ist beibehalten worden in Daniel Creutz' nun mit einem ersten Band begonnener Übersetzung des "Zibaldone", der ersten des gesamten Werks überhaupt ins Deutsche und erst die dritte weltweit (nach der - natürlich! - französischen von 2004 und der englischen von 2013). Wobei auch Italien mehr als sechzig Jahre auf die Edition des "Zibaldone" hatte warten müssen, denn als Leopardi 1837 im Alter von gerade einmal achtunddreißig starb, wusste niemand um das insgesamt mehr als 4500 Manuskriptseiten umfassende, von 1817 bis 1832 entstandene Konvolut. Erst in den Jahren 1898 bis 1903 wurde es in mehreren Bänden publiziert, wobei es dessen nicht bedurft hätte, um Leopardis Ruhm zu begründen: Seine Lyrik, Prosawerke und literaturkritischen Arbeiten hatten ihn in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bereits zu einem europäischen Phänomen gemacht - in Deutschland bekannt gemacht durch Schopenhauer, der mit der letzten Überarbeitung seiner "Welt als Wille und Vorstellung" den italienischen Dichter als geistesverwandten Autor würdigte, und durch Nietzsche, den als philosophierenden Altphilologen vor allem Leopardis Antike-Begeisterung bei größter Gegenwartsskepsis interessierte.
Beide wussten jedoch noch nicht um den "Zibaldone", jenes "Mischmasch" oder "Sammelsurium", wie sich der Titel übersetzen ließe, das seine vom intellektuellen und sprachlichen Anspruch her verblüffendste Parallele in Lichtenbergs "Sudelbüchern" hat. Die Nähe zu Ralph Waldo Emersons Tagebüchern (die Leopardi naturgemäß nicht kennen konnte) und Chateaubriands "Mémoires d'outre-tombe" (die er hoch schätzte) ist ebenfalls evident - und deshalb wohl auch kein Zufall, dass die "Zibaldone"-Übersetzung nun bei einem Verlag erscheint, der auch diese beiden Bücher jüngst in ein Programm aufgenommen hat, wenn auch nur in Auswahlbänden.
Für die deutsche Gesamtausgabe sind bislang bereits zehn Jahre Vorbereitung und fünf Jahre konkrete Übersetzungsarbeit geleistet worden, und vier umfangreiche Bände soll der "Zibaldone" bei Fertigstellung umfassen. Wobei der Auftaktband trotz seiner fast achthundert Seiten wohl noch den geringsten Anteil an Leopardi-Originaltext enthalten wird (knapp achthundert der Manuskriptseiten), doch dafür bietet er eine sechzigseitige Einführung des italienischen Leopardi-Experten Franco D'Intino zum "Zibaldone" (seiner Vorarbeit als Mitherausgeber der englischen Übersetzung verdankt sich ein Großteil des hundertseitigen Stellenkommentars im deutschen Band I) und ein Nachwort der die "Forschungsstelle Leopardi" leitenden Potsdamer Romanistin Cornelia Klettke, das dem Verhältnis des Dichters zu Deutschland (und umgekehrt) gilt. Zudem hat Klettke gemeinsam mit dem früheren Lektor der "Anderen Bibliothek", Ron Mieczkowski, auch die Übersetzung von Creutz durchgesehen. Die Fehler (winziger Natur) im ersten Band kann man an den Fingern einer Hand abzählen.
Wie aber steht es um die Qualität der Übersetzung? In der enzyklopädischen Denkfabrik des "Zibaldone" gibt es zu so ziemlich jedem Thema etwas zu finden, also auch zu Kriterien für die Bewertung der Arbeit von Creutz. Leopardis Vorstellung einer gelungenen Übersetzung entwickelte er ex negativo aus dem eigenen Literatur-Ideal, das auf der Nähe zur Ursprünglichkeit der Antike beruht: "Gewiss rührt alle Schönheit in den Künsten und beim Schreiben von der Natur her und nicht von der Künstelei oder der Suche. Nun ist die Übersetzung notwendigerweise gekünstelt, das heißt der Übersetzer strengt sich an, den Charakter und den Stil eines anderen auszudrücken und das, was ein anderer gesagt hat, in der Art und Weise und nach dem Geschmack desselben wiederzugeben." Dieser Passage ist bereits abzulesen, dass Creutz sich daran gehalten hat: Da ist keine Spur einer sprachlichen Aktualisierung oder Vereinfachung von Leopardis Prosa - manche Sätze erstrecken sich wie im italienischen Original über halbe Seiten oder mehr hinweg. Der Klassiker kommt also auch auf Deutsch klassisch daher, und seine Sprache lässt ein Bewusstsein entstehen für das, was Leopardi in einem Appell festhält, mit dem er die eben zitierte Stelle abschließt: "Betrachtet also, wie schwer eine gute Übersetzung im Bereich der schönen Literatur ist."
Wem aber gilt diese Ansprache in der zweiten Person Plural? Der "Zibaldone" ist ein Buch für alle und keinen. Er ist eine Stoffsammlung, aus der Leopardi selbst Nutzen für seine literarischen Projekte zog, ohne aber wortwörtlich daraus zu übernehmen, er ist eine ästhetische Selbstbefragung, und er ist auch eine Programmschrift, die durchaus mit einem größeren Publikum geliebäugelt hat, wie mehrere solche unmittelbaren Adressierungen deutlich machen. Was in dieses Manuskript hineinkam, das war bereits vom Verfasser gewogen worden, und in den anderthalb Jahrzehnten der Notate (die einen Höhepunkt an Dichte in den Jahren von 1820 bis 1823 erreichten, nach einer traumatischen "totalen Wandlung in mir", die Leopardi mit Anfang zwanzig fast in den Selbstmord getrieben hätte) entstand eine Textsammlung systematischen Charakters. Leopardi spricht in der Tat mit diesem Begriff, der erst durch die idealistische Philosophie salonfähig gemacht wurde, von "meinem System", und in einem der längsten zusammenhängenden Abschnitte des Konglomerats - man könnte hier wie bei noch vier anderen Passagen des ersten Bandes von einem ausgewachsenen Essay sprechen - verteidigt er dieses System gegen den möglichen Vorwurf, das darin Dargelegte könnte dem Christentum zuwiderlaufen.
Nun war Leopardi ein Kind seiner Zeit und damit auch der Aufklärung (die Französische Revolution sah er zwiespältig, weil sie einerseits die in seinen Augen gesellschaftsschädigende geistige Verfeinerung des Ancien Régime hinweggefegt, andererseits aber durch die danach angestrebte Etablierung eines Vernunftkults vergleichbar falsch gehandelt hatte), aber am Weihnachtstag ließ er seine Denkarbeit ruhen, und die Religion sah er an der Wiege der Zivilisation sitzen, während an deren Grabe die Philosophie stehe. Die Übereinstimmung seines Systems mit den christlichen Lehren war ihm deshalb wichtig, wenn er auch als guter Universalist betonte, dass es auch mit allen anderen religiösen Überzeugungen vereinbar sei.
Zugleich war Leopardi alles andere als ein Weltbürger, auch wenn er mindestens sieben Sprachen beherrschte: "Als die Vaterlandsliebe zu Rom kosmopolitisch geworden war, wurde sie gleichgültig, und wirksam und nichtig; und als Rom dasselbe geworden war wie die Welt, war es das Vaterland von niemandem mehr, und die römischen Bürger besaßen, da sie die Welt zum Vaterland hatten, kein Vaterland, und sie zeigten es mit ihren Taten." Solche Befunde taugen auch heute unverändert als Debattenbeiträge, und es ist kein Zufall, dass Leopardi als konservativer - manche mögen sagen: reaktionärer - Denker sowohl im faschistischen Italien wie im nationalsozialistischen Deutschland postum wohlgelitten war.
Aus seiner konservativen Haltung heraus erwuchs aber auch ein Blick auf die Welt, der Leopardi zu einem der frühesten Ökologen macht: "Wie wenig es möglich ist, dass ein von seiner Wurzel abgeschnittener Baum blüht und Früchte trägt, so ist es ebenso unmöglich, dass der Mensch vollkommen von der Natur, von der wir uns immer weiter entfernen, abgetrennt lebt. Träume und Visionen. Lasset uns in hundert Jahren noch einmal darüber sprechen. Aus den vergangenen Zeitaltern verfügen wir noch über kein Beispiel des Fortschritts einer maßlosen Zivilisierung und einer grenzenlosen Naturzerstörung. Aber wenn wir nicht umkehren, werden unsere Nachkommen dieses Beispiel ihren Nachfahren hinterlassen, wenn sie denn überhaupt welche haben werden."
Leopardis Warnung ist nicht gehört worden; sein befürchtetes Beispiel hätte er mittlerweile. Dieser Autor ist ein Mann für unser Jahrtausend, auch wenn ihm zweifellos lieber gewesen wäre, vor etwas mehr als zweitausend Jahren gelebt zu haben, als der von ihm über alles bewunderte Cicero schrieb. Leopardis hochliterarisches Buch ist beseelt, herzblutreich, voller Bewegung, Wärme, Leben.
Giacomo Leopardi:
"Zibaldone". Die Gesamtausgabe. Band I.
Aus dem Italienischen von Daniel Creutz. Einführung und Kommentar von Franco D'Intino. Essay von Cornelia Klettke. Matthes & Seitz, Berlin 2024.
792 S., geb., 89,- Euro.
Erscheint in Kürze.
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