Besprechung vom 06.07.2024
Raus aus der Quengelzone
Heike Melzer über Risiken von Belohnungsreizen
In der Verhaltensökonomik spricht man gern von "Nudges", also kleinen Designelementen, die darauf abzielen, menschliches Verhalten zu lenken. Wir alle kennen solche Nudges aus dem digitalen Alltag, beispielsweise wenn uns die Lesebestätigung bei Whatsapp direkt auf eine Nachricht antworten lässt. Heike Melzer verwendet in ihrem neuen Buch lieber den Begriff "Köder", der auch familiengeschichtlich bei ihr eine Rolle gespielt hat: Ihr Vater war passionierter Angler.
Überall in unseren analogen und digitalen Leben finden sich Köder. Die Quengelzone an der Kasse versucht, uns zu überzeugen, einen überteuerten Schokoriegel zu erwerben, das Onlinekaufhaus hat rund um die Uhr geöffnet, und obendrein können wir dort so einfach wie nie zuvor Käufe abschließen. Das alles bleibt nicht ohne Folgen. Melzer, Neurologin und Psychotherapeutin, beschreibt den Vormarsch der Verhaltenssüchte. Sie erörtert das Ausmaß ungesunder Ernährungsgewohnheiten und widmet sich exzessiven Verhaltensweisen in den Bereichen Sexualität, Gaming und Glückspiel, Social Media und Onlineshopping.
Nicht alles daran ist neu. Manches lässt an Nir Eyals Klassiker "Hooked" denken. Eyal untersuchte in seinem Buch bereits vor einigen Jahren wie Plattformdesign - also Köder in der Onlinewelt - Menschen immer wieder einfangen. Auch Assoziationen zu Bert te Wildts Buch "Digital Junkies" liegen nahe, da der Autor, ganz wie nun auch Heike Melzer, die Internetsucht mit psychotherapeutischem Fokus in den Blick nimmt.
Melzer liefert eine kurze Einführungen in das aktuell anerkannte neurowissenschaftliche Suchtmodell, welches durch das Zusammenspiel von zu geringer präfrontaler Aktivität (fehlende Selbstregulation) und zu starker Aktivität des Belohnungssystem im Angesicht von Ködern gekennzeichnet ist. Sie widmet dem Botenstoff Dopamin ein ganzes Kapitel, in dem sie die nicht einfache Aufgabe meistert, komplexe Sachverhalte aus den Neurowissenschaften für Laien nachvollziehbar darzustellen.
Allerdings wären tiefere Einblicke in weitere neurochemische Prozesse bei Verhaltenssüchten wünschenswert gewesen. Zudem hätte die naheliegende Frage nach den Überlappungen von verhaltens- und substanzgebundenen Suchtformen breiter diskutiert werden müssen. Im aktuellen ICD-11, dem Manual der Weltgesundheitsbehörde, ist jenseits von Gaming Disorder und Gambling Disorder keine der von Melzer beschriebenen Onlineverhaltensweisen als Verhaltenssucht offiziell anerkannt.
Eine zentrale Forschungsfrage lautet denn auch, inwieweit die aktuellen Kriterien der Weltgesundheitsbehörde für die Diagnosestellung Gaming Disorder und Gambling Disorder tatsächlich eins zu eins auf Bereiche wie exzessives Shoppen oder exzessive Social-Media-Nutzung übertragen werden kann. Aktuelle Studien werden von Melzer nur sparsam angeführt. Dennoch eignet sich das Buch als Einstieg ins Thema Verhaltenssüchte, zumal es am stärksten ist, wenn die Autorin über Fälle aus ihrer Praxis berichtet, die dem Leser eindrücklich das Leid vor Augen führen, welches mit ausgeprägten Verhaltenssüchten einhergeht: zerbrechende Beziehungen, Verschuldungen und Konflikte mit dem Gesetz. CHRISTIAN MONTAG
Heike Melzer: "Versteckte Köder". Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien.
Hanser Verlag, München 2024. 256 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.