Der neue Roman von Hengameh Yaghoobifarah
Freitagabend, ein Hochhaus, 15. Stock. Avas Date mit Robin läuft perfekt. Bis es klingelt und zwei unerwartete Gäste vor der Tür stehen: Delia hat das Handy in Avas Schlafzimmer liegen lassen und will es abholen kommen. Silvia möchte Ava zur Rede stellen, denn seit einer Weile wird sie geghostet. In Avas Flur begegnen sich die drei Liebhaber_innen nun zum ersten Mal. Überfordert flüchtet Ava auf das Dach des Hochhauses, die anderen laufen ihr hinterher. In der Eile bringt niemand den Schlüssel oder ein Handy mit. So wird aus einem Date zu zweit eine gemeinsame Mission zu viert. Das Ziel: runterkommen vom Dach. Doch der Weg dorthin birgt Konflikte und Enthüllungen. Robin, Delia und Silvia kämpfen auf ganz eigene Weise um Avas Nähe und Aufmerksamkeit. . . In »Schwindel« erzählt Hengameh Yaghoobifarah so fluide, echt und witzig über queeres Begehren, wie niemand sonst es vermag. Eine kompromisslos heutige Liebesgeschichte von radikaler Lebendigkeit und ein irres Lesevergnügen.
»Hengameh Yaghoobifarah ist eine schriftstellerische Begabung. « DIE ZEIT
»Niemand kann so aufregend, klug und wahnsinnig witzig über »Queers« schreiben wie Hengameh Yaghoobifarah. Man inhaliert diesen Roman förmlich, lernt dabei so etwas wie eine neue Sprache und lacht sich halb tot. Jede seiner Seiten ist so deliciously prall mit Leben. « DANIEL SCHREIBER
Besprechung vom 26.09.2024
Studentenfutter? Längst sprachlich unkorrekt
Mit Erklärbär auf dem Sofa: Hengameh Yaghoobifarahs Roman "Schwindel" ist belehrend und begeisternd zugleich
Es ist kompliziert, so viel ist sicher. Ansonsten herrscht viel Unsicherheit: über die eigene Gefühlswelt, den eigenen Körper, die Verortung in der Welt an sich und nicht zuletzt über die Situation, in die sich die vier Menschen auf dem Dach unfreiwillig gebracht haben.
Es ist eine Liebesgeschichte der etwas anderen Art, die Hengameh Yaghoobifarah in "Schwindel" erzählt. Der Titel des Romans birgt gleich mehrere Bedeutungen. Schwindel ob der Höhe, in der sich das Drama entfaltet, Schwindel, weil alles so kompliziert ist in diesen Beziehungen, dass einem schwindelig werden kann, aber auch der Schwindel in seiner Bedeutung als Täuschung. Denn so ganz ehrlich ist hier niemand, alle haben ein Geheimnis oder verstecken zumindest ihre wahren Gedanken und Gefühle voreinander. "Wahrheit. Was heißt das schon?", fragt sich Ava an einer Stelle. "Ava kennt kein Kind, das so viel gelogen hat wie sie."
Es ist Freitagabend, ein Hochhaus, fünfzehnter Stock. Avas Date mit Robin läuft ganz nach ihrem Geschmack, denn als Ava sich mit der Zunge durch den Mund fährt, weiß sie, so schmeckt das Paradies. Doch dann läuft ziemlich schnell alles aus dem Ruder. Als es klingelt und ihre beiden anderen Beziehungen Delia und Silvia plötzlich vor der Tür stehen, flüchtet Ava völlig überfordert aufs Dach. Das Problem: Die drei anderen rennen ihr hinterher, jede mit einem anderen Motiv, jedoch keine mit Handy oder Schlüssel in der Hand. Als sich alle vier plötzlich auf dem Dach des Hauses wiederfinden und die Treppenhaustür ins Schloss fällt, beginnt ein Abend voller Enthüllungen und tiefer Einblicke in die Gefühlswelt der vier Personen (man muss hier so geschlechtsneutral wie möglich schreiben, weil es auch um Geschlechtsidentitäten jenseits von Mann und Frau geht). "Eine apathische Kifferin, eine aggressive Hetera und eine fatalistische Heulsuse, die Hölle hätte per Zufallsgenerator keine bessere Kombination generieren können", fasst Silvia die Situation aus ihrer Sicht zusammen.
Selten liest man so intensiv, wahrhaftig und detailliert über das Begehren wie in "Schwindel". Yaghoobifarah hat den richtigen Ton dafür gefunden, und auch wenn sie hier authentisch und witzig über queeres Begehren schreibt, ist das Begehren an sich eine universelle Sprache, die von allen überall verstanden wird, egal ob queer oder hetero. Da stört es auch nicht, dass die Geschichte in einer ganz eigenen Sprache erzählt wird, in der sich Queer-Slang und Anglizismen wild mischen. Wer sich jedoch nicht in dieser Welt auskennt, dem wird sich vermutlich nicht auf Anhieb alles erschließen. Aber den Anspruch, alle zu erreichen, hat Yaghoobifarah eh nicht. In einem Interview in der "Tageszeitung" zu ihrer Kolumnen-Sammlung "Habibitus" sagte Yaghoobifarah im vergangenen Jahr: "Ich schreibe meine Texte vor allem so, dass queere Genoss_innen am meisten Spaß dran haben."
Zumindest erweitert der nichtqueere Leser so seinen Sprachhorizont und lernt die Bedeutung von Ausdrücken wie "Dyke", "Gender euphoria", "menty b.", "gender affirmating lifestyles" oder "Gay Origin Story" kennen. Aber Yaghoobifarah beschreibt auch sehr anschaulich, dass dieses Verständnis nicht unbedingt eine Frage von Queerness ist, sondern oft eine Generationenfrage. Silvia zum Beispiel kommt als ältere Lesbe mit den drei sehr viel Jüngeren nicht mit - und die lassen sie spüren, wie wenig sie von ihresgleichen halten. Wenn zum Beispiel Silvia Studentenfutter in ihrer Tasche findet, dann wird sie von den anderen jäh unterbrochen. "'das heißt student*innenfutter', zischt robin. 'studifutter', korrigiert dey."
Es ist Yaghoobifarahs zweiter Roman nach "Ministerium der Träume", der 2021 erschien und ein Bestseller wurde. Zusammen mit Fatma Aydemir hat Hengameh Yaghoobifarah 2019 zudem den viel beachteten Essayband "Eure Heimat ist unser Albtraum" herausgegeben.
Yaghoobifarah identifiziert sich als nichtbinär, also weder als männlich noch weiblich, und nutzt im Englischen das Pronomen "they", im Deutschen gar keine Pronomen. In "Schwindel" ist es Delia, die sich als nichtbinär identifiziert, und im ersten Moment ist es irritierend, weil so ungewohnt, dass Yaghoobifarah in den Passagen, in denen aus Delias Perspektive erzählt wird, nie die Pronomen "er" oder "sie" benutzt, sondern "demm" und "dey". Aber je länger man liest, desto normaler wird es. Alles, auch in der Sprache, ist eine Frage der Gewöhnung und des Sich-darauf-Einlassens.
Trotzdem fühlt es sich manchmal so an, als müsse der Text einen Bildungsauftrag erfüllen, den sogenannten Cis-Menschen erklären, wie es in der Transwelt so läuft, sich anfühlt, was man sagt, denkt und wie man es tut. Das ist interessant und sicher auch wichtig, aber manchmal auch ein bisschen anstrengend, als säße der Erklärbär mit auf dem Sofa beim Lesen.
Aber dann findet Yaghoobifarah wieder so schöne und wahre Bilder für die komplizierte Gefühlswelt, die sich zwischen Begehren, Abweisung, Verliebtsein und Liebe bewegt, dass man die belehrenden Passagen gerne hinnimmt. Wem öffnet man seine innersten, verborgenen Türen? Und wie groß ist das Leid bei denen, die draußen bleiben müssen, obwohl sie so gerne ins Innerste vorgelassen werden möchten?
Die Gefühlswelt von queeren Menschen ist selten so präzise ausformuliert worden wie in "Schwindel". Das Nicht-Dazugehören, Sich-nicht-verstanden-Fühlen und das daraus oft resultierende Gefühl einer inneren oder äußeren Gefangenschaft ist ein großes Thema in diesem Roman. Zum einen plakativ durch die Gefangenschaft auf dem Dach, zum anderen durch die Gefangenschaft im eigenen Körper, in den gesellschaftlichen Normen, den familiären Beziehungen und Erwartungen, gibt Yaghoobifarah dem viel Raum. Wie lässt sich leben - und überleben - in einer Gesellschaft, in der von vielen alles abseits der Cis-Normativität, bei der das eigene Geschlechtsbewusstsein und das einer Person nach der Geburt zugewiesene Geschlecht übereinstimmen, als sonderbar, falsch, schamhaft gesehen wird?
Viele Jahre hat Yaghoobifarah die "Tageszeitung"-Kolumne "Habibitus" geschrieben, in der es oft darum ging, was in Deutschland alles schiefläuft. Ein Sammelband mit den Kolumnen und anderen Texten erschien 2023 bei Blumenbar und war im selben Jahr für den Kurt-Tucholsky-Preis nominiert. Im Juni 2020 hatte eine dieser Kolumnen bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, weil Yaghoobifarah im Text Polizisten mit Müll gleichgesetzt habe, so die Kritik einiger Journalisten und Politiker. Selbst bei der "Taz" sahen einige die Menschenwürde durch die Kolumne verletzt.
Yaghoobifarah ist in Aktivismus und Journalismus eine streitbare Person, aber mit schriftstellerischer Begabung. Die journalistische Arbeit hintangestellt hat sie nicht, um Karriere zu machen, wie sie sagt: "Ein Lesbendrama zu schreiben, statt kommerzorientiert zu entscheiden, ist schon mal eine Absage an Karrierismus." Zudem gründete Yaghoobifarah 2023 gemeinsam mit Fatma Aydemir, Enrico Ippolito und Miryam Schellbach mit "Delfi" ein "Magazin für neue Literatur" und trat in diesem Jahr in die Partei Die Linke ein. Dort gibt es derzeit auf jeden Fall einiges zu tun.
So viel ist sicher: Yaghoobifarah wird garantiert streitbar bleiben und bleibt hoffentlich auch dem Literaturbetrieb erhalten. Denn migrantische, queere Perspektiven und Geschichten, die mit so viel Sprachwitz erzählt werden, gibt es nicht allzu viele. AMIRA EL AHL
Hengameh
Yaghoobifarah:
"Schwindel". Roman.
Blumenbar Verlag, Berlin 2024. 240 S., geb.,
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