»Intellektuell und rhetorisch der bestmögliche Mann zum Thema Lernen. «
Richard David Precht
In der Nacht vor der Klausur noch schnell den Lernstoff in den Kopf bekommen, das versuchen viele. Doch schon zwei Wochen später ist alles wieder vergessen. Wie aber gelingt es, Wissen langfristig zu behalten? Noch dazu in einer Welt, in der Wissen Vorsprung schafft? Verstehen ist die Zauberformel - und die wahre Stärke menschlichen Denkens. Hirnforscher Henning Beck zeigt, wie es geht.
Ob in der Schule, in Unternehmen oder im täglichen Leben: Um der heutigen Informationsflut gerecht zu werden, müssen wir lebenslang lernen. Lernen ist aber nur die halbe Miete. Denn das, was man gelernt hat, kann man auch wieder ver-lernen. Erst wenn wir Zusammenhänge verstanden haben, können wir Wissen dauerhaft abspeichern. Der Hirnforscher und Neurobiologe Henning Beck kennt die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse. Anschaulich erklärt er, wie echtes Verstehen unser Denken auf den Kopf stellt. Er hinterfragt Lernmethoden kritisch und zeigt darüber hinaus konkrete Wege für Problemlösungen auf.
Die neue Lernmethode von Bestsellerautor und Neurowissenschaftler Henning Beck
Besprechung vom 18.04.2020
Wie es wohl wäre, ein Baum zu sein?
Lernen, um zu verstehen: Der Neurowissenschaftler Henning Beck hält nicht viel vom Büffeln
Der Trichter, durch den Wissen eingeflößt wird, ist eine fünfhundert Jahre alte Metapher. Ihre moderne Fortsetzung heißt "Bulimie-Lernen": So nennen es Schüler und Studenten, wenn sie sich mit Informationen vollstopfen, um sie am Tag der Prüfung hervorzuwürgen und dann zu vergessen. Der Neurowissenschaftler Henning Beck, der als Sachbuchautor, Vortragsredner und Seminarveranstalter seit Jahren die Erkenntnisse seines Fachs popularisiert, sagt dieser Art des Lernens und Lehrens den Kampf an.
Faktenreich und in einem unterhaltsamen Stil, der nur selten in eine etwas bemühte Flapsigkeit abrutscht, kritisiert Beck die Flut der auf kurzfristige Effizienz getrimmten Lernmethoden, die letztlich nur das testkonforme Wiederkäuen von Daten und Fakten antrainieren. Wirkliches Lernen und echtes Wissen setzen für Beck Verstehen voraus. Seine Definition des Verstehens ist abstrakt genug, um sehr unterschiedliche Bereiche und Situationen abzudecken: Es bedeutet, Informationen kreativ zu nutzen, daraus eigene Modelle des Denkens zu bilden, die sich erweitern und abwandeln lassen, um damit neue Aufgaben zu lösen und bislang unbekannte Sachverhalte zu erschließen.
Den Anfang dieses Verstehens bilden nicht didaktisch aufbereitete Wissenshäppchen, sondern Fragen, die die Lernenden herausfordern und irritieren. Lösungswege auszuprobieren, produktive Irrtümer zu begehen und konstruktiv zu scheitern sind Stationen auf diesem Weg. Zum Beispiel beim Thema Pflanzenzellen: Der konventionelle Weg wäre, dass der Lehrer anhand von Schaubildern den generellen Bauplan von Pflanzenzellen schildert und danach versucht, Fragen zu klären. Stattdessen, so Becks Vorschlag, sollten die Schüler sich lieber vorstellen, selbst ein Baum zu sein, der aus dem Sonnenlicht so viel Energie wie möglich ziehen muss, um damit Zucker zu bauen. Wie würden die Baumschüler ihre Pflanzenzellen konstruieren, damit das gelingt? Vielleicht ließen sich Solarzellen verwenden, und eine Fabrik müsste her, um Zuckermoleküle zu produzieren. Dafür wiederum wäre ein Bauplan nötig, Transporter müssten die Bauteile an ihren Einsatzort bringen und so fort.
Was so in den Köpfen entsteht, ist keine biologisch korrekte Beschreibung der Pflanzenzelle, aber ein elementares Verständnis ihres Aufbaus und ihrer Funktionen. Es ist Wissen, das haften bleibt und hilft, auch die Strukturen ganz anderer Sachverhalte zu erschließen. Die Methode ist nicht auf naturwissenschaftliche Fächer beschränkt: Welche Ideen entwickelt ein Schüler, wenn er sich in einen Papst in den siebziger Jahren des elften Jahrhunderts versetzt, der seinen Herrschaftsanspruch gegen den konkurrierenden König verteidigen will? Er wird nicht auf die Demütigung von Canossa kommen, aber Handlungsoptionen durchspielen, die ihm nicht nur die Zeit des Investiturstreits, sondern die Mechanismen der Macht und die Bedeutung politischer Symbolik nahebringen.
Das zugrundeliegende Prinzip ist für sich genommen nicht neu: Es ist die sokratische Methode des Fragens und Irritierens, die den Schüler veranlasst, sein eigenes Erkenntnispotential zu aktivieren. Auch das "entdeckende Lernen" der moderneren Pädagogik klingt hier an. Becks Buch ist trotzdem kein alter Wein in neuen Schläuchen. Es präsentiert eine Fülle anschaulicher Beispiele und Beobachtungen aus der Praxis vor einem neuropsychologischen Hintergrund, für den der Autor zahlreiche Studien ausgewertet hat. Deutlich wird, dass dem bloßen Pauken und dem verstehenden Lernen sehr unterschiedliche Hirnprozesse zugrunde liegen. Dass diese naturwissenschaftliche Untermauerung den Argumenten für das "neue Lernen" mehr Gehör bei bildungspolitischen Entscheidern verschafft, ist offensichtlich Becks Hoffnung.
Er verweist zudem darauf, dass ein Land wie Singapur sich gerade vom testfixierten Büffeln zu lösen beginnt, obwohl es ihm Spitzenplätze in den globalen Bildungsrankings verdankt. Der Grund dafür sind wiederum Ranglisten - solche für Innovationsfähigkeit, bei denen das Land schlecht abschnitt. Doch der Optimismus, den der Autor daraus schöpft, wirkt doch etwas forciert. Denn dass in nächster Zukunft ein nachhaltiges Umdenken einsetzt, ist für Singapur so fraglich wie für Deutschland und die sonstige Pisa-Welt. Zwar gibt es immer wieder Lehrer und Dozenten, die ihren Schülern und Studenten den Weg in die intellektuelle Eigenständigkeit weisen, doch sie schwimmen gegen den Strom. Die Reduktion des Bildungsbegriffs auf quantifizierbare Ergebnisse prägt seit fünf Jahrzehnten das Denken von Bildungspolitikern, Schülern und Eltern. Notendurchschnitte und Ranglistenplätze sind die Leitwährung; der kreative Umweg, die produktive Sackgasse werden als Verluste verbucht.
Die fröhliche Maske dieser Entwicklung ist die Entertainisierung der Wissensvermittlung. Auch sie ist, wie Beck zeigt, dem Verstehen nicht günstig: Gerade den gut gemachten, den witzigen und eingängigen Lehrvideos und Podcasts fehlen oft die Widerhaken, die eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Inhalten erst provozieren. Das gilt auch für beliebte Formate der akademischen Popkultur wie die Science Slams oder Kneipenveranstaltungen à la "Wissen vom Fass". Sie können Neugier erzeugen, aber kein echtes Verstehen. Es spricht für den Autor, der deutscher Meister im Science Slam war, dass er die Grenzen dieses Genres deutlich macht.
Ausführlich widmet sich Beck den Folgen der Digitalisierung des Schreibens und Lesens für das Lernen. Von Hand zu notieren geht zwar langsamer als das Gehörte einzutippen. Aber der so bewirkte Zwang, das Wichtigste in Stichpunkten zusammenzufassen, fördert das Mitdenken und verbessert das Verständnis der Inhalte gegenüber dem digitalen Mitschreiben. Allerdings gibt Beck hier nicht den aktuellen Forschungsstand wieder. Die Ergebnisse der sechs Jahre alten Untersuchung, die er anführt, konnten in Nachfolgestudien nicht oder nur eingeschränkt reproduziert werden. Es scheint, dass hier wie auch beim digitalen Lesen sehr viel von den Textarten, den persönlichen Voraussetzungen und den konkreten Lernumgebungen abhängt. Die Thematisierung solcher offenen Forschungsfragen kommt überhaupt etwas kurz bei einem Autor, der die Vorläufigkeit und Revidierbarkeit der Erkenntnisgewinnung betont. Doch den aufklärenden Wert des Buches schmälert das nicht.
WOLFGANG KRISCHKE.
Henning Beck: "Das neue Lernen heißt Verstehen".
Ullstein, Berlin 2020. 272 S., geb.
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