Spätestens seit dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan und dem russischen Überfall auf die Ukraine wissen wir, dass die bislang geltende Ordnung an ihr Ende gekommen ist. Die Welt ist in Aufruhr. Doch wie wird sie sich neu sortieren, und wie wird sie im 21. Jahrhundert aussehen? Vor welchen Umwälzungen, Brüchen und Umbrüchen stehen wir?
Eine auf Werten und Normen fußende Weltordnung durchzusetzen, übersteigt die Fähigkeiten des Westens. Die USA, einst «Weltpolizist», befinden sich trotz internationalen Engagements auf dem Rückzug; die UN, der man diese Rolle ebenfalls zugedacht hatte, blockiert sich selbst. Und die Europäer sind schlicht nicht imstande, eine Weltordnung zu hüten. Eine prekäre, risikoreiche Lage, in der auch ein Blick in die Geschichte und auf frühere weltpolitische Konstellationen hilfreich ist, um Hinweise auf die künftige, sich jetzt herausbildende Ordnung zu erhalten.
Herfried Münkler zeigt in dieser gedankenfunkelnden geopolitischen Analyse, wo in Zukunft die Konfliktlinien verlaufen. Viel spricht dafür, dass ein neues System regionaler Einflusszonen entsteht, dominiert von fünf Großmächten. Wo liegen die Gefahren dieser neuen Ordnung, wo ihre Chancen? Wäre es ein austariertes Mächtegleichgewicht - oder Chaos? Und wie sollten sich Europa und Deutschland in den zu erwartenden globalen Auseinandersetzungen verhalten? Ein aufregender, Maßstäbe setzender Ausblick auf die Machtkonstellationen im 21. Jahrhundert.
Besprechung vom 15.10.2023
Das Welt-Direktorium
Herfried Münkler fragt, welche globale Ordnung nach dem Ende der westlichen Hegemonie einen großen Krieg vermeiden kann.
Von Mark Siemons
Noch geben sich Politiker und Kommentatoren alle Mühe, so zu reden wie immer. So, als gäbe es die Hegemonie "des Westens" noch, der die "regelbasierte internationale Ordnung" überall bestimmen kann. So, als würde das, was in diesem Westen gedacht und diskutiert wird, irgendwie ausschlaggebend sein für den Rest der Welt, zum Beispiel die Erörterung der Frage, ob man nun eine unipolare, eine bipolare oder eine multipolare Weltordnung vorzieht. Die Wirklichkeit ist, dass diese Frage mit oder ohne Zustimmung des Westens schon entschieden wurde, dass es eine multipolare Konstellation längst gibt, seitdem die USA nicht mehr bereit und auch nicht fähig sind, ihren Willen und ihre Wertvorstellungen global durchzusetzen, und seitdem auch westliche Nationen damit beginnen, ihre Wirtschaftsräume abzuschirmen, und dadurch die Idee eines freien Weltmarkts nach und nach aufgeben. Die große Frage ist, wie in dieser neuen Lage eine Koexistenz der Blöcke mit ihren zum Teil gegensätzlichen Normen und Interessen möglich sein wird, ohne dass es zu einem Weltkrieg und einem globalen Chaos kommt. Welche "Ordnung" kann aus der Multipolarität erwachsen?
Diese Frage, der die meisten öffentlichen Debatten immer noch ausweichen, ist etwas für Herfried Münkler, den Berliner Politikwissenschaftler mit dem Mut zur größtmöglichen Abstraktion, der schon seit Jahrzehnten den Westen zu mehr "strategischem Denken" mahnt. In seinem neuen Buch "Welt in Aufruhr" setzt er in immer neuen Anläufen verschiedene Bausteine geopolitischer Theorien so zusammen, dass am Ende das Modell einer Pentarchie herauskommt, eines aus den USA, China, der EU, Russland und Indien gebildeten "Direktoriums der Weltordnung".
Mehrfach betont Münkler, dass es sich dabei um keine Voraussage handele, was tatsächlich eintreten werde - das ist von zu vielen unberechenbaren Faktoren abhängig, um verlässlich zu sein. Sondern um eine Modellbildung, was "eigentlich" zu erwarten sei, gewonnen aus der "Geschichte der reflektierten Auseinandersetzung" mit Weltordnungen und deren Wandel, "in Ruhe, ohne Aufgeregtheit oder Nervosität".
Wichtig ist ihm bei seiner Methode auch, dass sie sich nicht an "Wünschbarkeiten", sondern am realpolitisch Möglichen orientiert. Dieser Ausgangspunkt hat beträchtliche Folgen. Ein zentrales, sich durch das ganze Buch hindurchziehendes Argument ist, dass den westlichen Werten in der gegenwärtigen Konstellation ein "Hüter" fehle, der in der Lage wäre, sie auf der ganzen Welt durchzusetzen. Münkler folgert daraus, dass der Westen den globalen Geltungsanspruch seiner Werte und Normen einschränken müsse: "Je weniger von Werten die Rede ist, desto leichter werden sich Regeln im Umgang der großen Mächte miteinander festlegen lassen. Man muss sich also entscheiden, was einem wichtiger ist: das folgenlose Geltendmachen von Werten oder die Verständigung auf verbindliche Regeln."
Man kann Münkler zugutehalten, dass er sich diese Alternative nicht leicht macht, dass er sie keineswegs aus einer zynischen Machtperspektive heraus entwickelt. Der ständig präsente Hintergrund, der dem Buch seinen Ernst und sein Gewicht verleiht, ist vielmehr die reale Möglichkeit, dass nicht nur einzelne Mächte scheitern, sondern die globale Ordnung als Ganze. "Die Folgen wären freilich furchtbar", lautet nach 456 Seiten der letzte Satz des Buchs. Die Einklammerung normativer Ansprüche beruft sich also auf eine normative Begründung: die Verhinderung einer apokalyptischen Zuspitzung.
Mit Ausnahme des Ukrainekriegs geht Münkler kaum auf aktuelle Konflikte ein. Vielmehr überprüft er geopolitische Modelle aus unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen auf ihre prinzipielle Brauchbarkeit. Kriegstheoretiker wie Thukydides, Machiavelli und Clausewitz werden ebenso vorgestellt wie verschiedene Typen von Großreichbildung und von friedenserhaltenden Ordnungsversuchen. Es geht dem Autor weniger um konkrete Vorschläge als darum, überhaupt erst den Raum abzustecken, in dem mögliche Lösungen abgewogen werden können, also die Erfahrungen vergangener Konflikte und Denkbemühungen für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Diese Vogelperspektive ist vor allem dann erhellend, wenn sie geläufigen Strategien ihre Grenzen aufzeigt, ohne sie dadurch schon gänzlich zu verwerfen.
Der Abschreckungsansatz zum Beispiel, dem zufolge man sich für einen Krieg rüste, um ihn zu vermeiden ("Si vis pacem para bellum"), funktioniere nur so lange, als er von allen Seiten als Paradox anerkannt werde - und nicht etwa als Täuschung, hinter der sich eine Eroberungsabsicht verberge, der konkurrierende Mächte zuvorkommen müssten. Als unzuverlässig erweist sich auch der von Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten favorisierte Ansatz einer zunehmenden globalen Wirtschaftsverflechtung, dem Münkler den Namen "Comte-Spencer-Modell" gibt. Die Erwartung, das realistische Eigeninteresse aller Beteiligten am Bestand der dadurch herbeigeführten Win-win-Konstellation könne Kriege verhindern, ist im Fall Russlands offensichtlich gescheitert. Unter den vielen Gründen dafür hebt Münkler hervor, dass der intendierte "Wohlstandstransfer" wegen der Korruption russischer Eliten bei großen Teilen der russischen Bevölkerung gar nicht angekommen sei und dass diese Eliten ihrerseits den Wechsel der Ukraine in eine verrechtlichte westliche Sphäre als Exempel für Russland fürchten müssen.
Lakonisch fügt der Autor noch eine prinzipiellere Feststellung an. Sobald sich die fraglichen Mächte nicht in einem politisch-kulturell und sozioökonomisch ähnlichen Raum befinden, werde das Homo-oeconomicus-Modell, auf dem die Annahme der friedensschaffenden Kraft einer verflochtenen Wirtschaft beruht, "zur Quelle für politische Fehleinschätzungen". Das allerdings ist eine Bemerkung, die sich auch gegen Münklers eigene Methode wenden lässt, beim Durchspielen abstrakter geopolitischer Modelle von kulturellen und historischen Unterschieden weitgehend abzusehen. Fast alle Ordnungsvorstellungen, die das Buch diskutiert, entstammen der Geschichte Europas. Das Kapitel, in dem imperiale Narrative Russlands, der USA und Chinas referiert werden, ist mit seiner willkürlichen Auswahl von Quellen und Motiven das schwächste des Bandes.
Münkler versucht gar nicht erst, die unterschiedlichen Konzepte von "Welt", die darin stecken, miteinander in Beziehung zu setzen. Das aber wäre notwendig, um die Spielräume wechselseitiger Vereinbarungen realistisch auszuloten - und nicht bei der vermeintlich allgemeingültigen Rationalität abstrakter Ordnungsvorstellungen stehen zu bleiben.
Und noch eine andere damit verwandte Frage stellt sich bei der Vogelperspektive auf zwischenstaatliche Modelle: Kann nicht auch das Absehen vom Volkswillen, von gesellschaftlichen Prozessen in den ganz unterschiedlich geprägten Nationen zu geopolitischen Fehleinschätzungen führen? Münkler stellt präzise dar, wie die Bevölkerung der Ukraine den Plänen, ihr Land als Pufferzone zwischen den Mächten zu behandeln, einen Strich durch die Rechnung machte.
Und er weist den allein auf Großräume bezogenen Ordnungsvorstellungen Carl Schmitts, die er ausführlich behandelt, ihren antiliberalen und antiuniversalistischen Grundzug nach, weshalb sich gerade russische und chinesische Staatsintellektuelle in letzter Zeit vermehrt auf sie und das von Schmitt geforderte "Interventionsverbot für raumfremde Mächte" beziehen. Den Ukrainekrieg interpretiert Münkler nicht zuletzt als Kampf Russlands für die Durchsetzung dieses Prinzips, gegen die westlichen Prinzipien der staatlichen Souveränität und der ökonomischen Verflechtung.
Aber er erörtert nicht systematisch den Zwiespalt, der sich daraus ergibt: dass in Abwesenheit einer obersten Schiedsgerichtsmacht Übereinkünfte zwischen den großen Staatsblöcken zur Erhaltung des Friedens unabdingbar sind, dass aber zugleich die Selbstbestimmung der davon betroffenen Völker nicht bloß ein moralisches Recht ist, sondern auch ihrerseits eine realpolitische Macht und potentielle Ursache von Konflikten.
Diese argumentative Lücke schwächt die Überzeugungskraft der vorgestellten Modelle. Eine Einklammerung universalistischer Werte ist gerade realpolitisch gar nicht ohne Weiteres möglich. Und eine Ausbalancierung der Mächte wird nicht darum herumkommen, sich auch ganz konkret mit den Kategorien der beteiligten Staaten, Kulturen und Gesellschaften zu beschäftigen - dass zum Beispiel der Nahostkonflikt in dem Buch kaum eine Rolle spielt, zeigt gerade jetzt ein Defizit des vor allem an abstrakten Typisierungen orientierten Denkens an. Doch zugleich dürfte die Fülle an Kriterien und oft überraschenden Überlegungen, die das Buch der Geschichte geopolitischer Theoriebildung abgewinnt, für die künftigen Debatten zum Thema unverzichtbar sein.
Am konkretesten wird Münkler, wenn er die europäischen Staaten und insbesondere Deutschland dazu auffordert, die EU "aus einem umtriebigen Regelgeber und Regelbewirtschafter in einen machtpolitisch handlungsfähigen Akteur zu verwandeln". Nur so könne Europa seine Rolle in der durch fünf Mächte bestimmten Weltordnung einnehmen, die er für das wahrscheinlichste Zukunftsszenario hält. Er begründet die Überlegenheit der Pentarchie sowohl historisch ("Seit dem 15. Jahrhundert weisen die multipolaren Systeme Europas eine auffällige Neigung zu Fünferkonstellationen auf") als auch spieltheoretisch. Sie sei besser in der Lage, Veränderungen abzufedern und für wechselseitige Kontrolle zu sorgen als eine bipolare Ordnung. Wobei auch bei dem Zusammenspiel der Mächte, mit dem der Autor rechnet, zwei Blöcke einander gegenüberstehen würden: USA und EU auf der einen Seite, China und Russland auf der anderen, und Indien wäre dann das Zünglein an der Waage. Um jede dieser Mächte herum würde sich ein eigener Klub von sie unterstützenden Staaten bilden, die zugleich ihre Ressourcen sichern. Münkler lässt keinen Zweifel daran, dass allerdings auch eine solche, prinzipiell Stabilität versprechende Ordnung scheitern kann - sei es wegen Konflikten entlang ihrer Bruchlinien, sei es, weil sie es nicht schafft, "Menschheitsaufgaben" wie den Klimawandel oder die Migrationsbewegungen zu bewältigen.
Das Buch ist durch einen ständigen Wechsel zwischen seiner Vogelperspektive und der Live-Reflexion des Ukrainekriegs geprägt. Es ist offensichtlich, dass alle Szenarien unter dem Vorbehalt der Ungewissheit stehen, wie dieser Krieg ausgehen wird.
Herfried Münkler: "Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert". Rowohlt Berlin, 528 Seiten
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