Besprechung vom 11.11.2021
Das Eigenleben des Geklebten
Herta Müller setzt einzelne Wörter zur Fluchtgeschichte zusammen
Herta Müller bastelt schon seit langer Zeit Wortcollagen und hat ihre Arbeitsweise im Laufe der Jahre immer weiter verfeinert. Anfangs, als sie noch in Rumänien lebte, suchte sie nur nach einer Alternative zu den dort erhältlichen gewöhnlichen Postkarten, die ihr nicht gefielen. Also kaufte sie weiße Karteikarten, beklebte sie mit Wortschnipseln, die sie aus Zeitschriften und Zeitungen ausgeschnitten hatte, und verschickte diese an ihre Freunde. Dann, schon nach dem Weggang aus Rumänien und ihrer Ankunft in Deutschland, sammelte sie mehrere Postkarten dieses Stils in einer Schachtel und veröffentlichte sie unter dem Titel "Der Wächter nimmt seinen Kamm" (1993). Später reimte sie in ihren Collagen und machte sie zu Gedichten, die zum ersten Mal in dem Buch "Im Haarknoten wohnt eine Dame" (2000) gesammelt wurden. Und nun, nachdem Herta Müller bereits mehrere dieser Bücher publiziert hat, holt sie die Collagen-Gedichte aus der Vereinzelung und erzählt mit ihnen eine ganze Geschichte.
"Der Beamte sagte" heißt sie, und das Geschehen handelt von ihrer ersten Zeit in Deutschland. Ein Auffanglager kommt darin vor, Erinnerungen an ihre Mutter, ein Koffer, tote Freunde, mehrere Menschen, die namenlos bleiben, aber wiedererkennbar beschrieben sind als "Frau mit dem Dutt", "Frau mit dem russischen Akzent" und "Mann mit der Zahnlücke". Auch Beamte spielen eine Rolle, wobei nicht immer sofort ersichtlich ist, ob sie tatsächlich dem deutschen oder womöglich doch dem rumänischen Staat und dessen Diktator Nicolae Ceausescu dienen, so seltsam sind die Fragen, mit denen sie sich der Flüchtenden in diesem Buch in den Weg stellen. Denn die Erfahrung, von der die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009 erzählt, ist die des Ankommens in einem Land, das einen partout nicht willkommen heißt: "Der Beamte fragte haben / sie Zeugen ich sagte Ja / 5 sind tot und 9 / nicht da er sagte / Aha." In die standardisierten Schemata der Beamten aus beiden Staaten passt das Leben des Einzelnen nicht hinein. So gerät das Gespräch zwischen beiden Seiten zur Farce, bei der einem jedoch das Lachen oft im Hals stecken bleibt.
Was soll man denn auch antworten auf die Frage, ab wann man zum Staatsfeind wurde? Oder ob man schon immer einer werden wollte? Ob es nicht klar war, dass es gefährlich wäre, den Sozialismus abzulehnen? Der Erzähler oder besser das lyrische Ich bei Herta Müller weiß auf diese Fragen nichts zu sagen, und wenn doch, dann sind es Entgegnungen, die das absurde Potential der Situation auf Schönste heben. "Der Beamte sagte man / weint nicht, egal was / man meint ich sag eine / Schlinge wird kein Hut / egal was man tut / er sagt absolut." Trotz des Witzes aber bleibt Verständigung unmöglich, denn weder kann die Flüchtende beweisen, was sie weiß, noch der Beamte verstehen, was er nicht kennt. Der Weg in die Freiheit gleicht so einem Spießrutenlauf, von dem Herta Müller aus eigener Erfahrung berichtet. Erst vor Kurzem erzählte sie in einem Interview, dass sie nach ihrer Flucht aus Rumänien im Jahr 1987 selbst in einem Auffanglager nahe Nürnberg untergekommen war, wo sie erst einmal wochenlang festhing, weil der deutsche Geheimdienst sie der Spionage für die Securitate verdächtigt habe. Während die rumänische Geheimpolizei sie ja der Spionage für Deutschland beschuldigte.
Die Einsamkeit, die daraus im Buch entsteht, ist vollkommen. Aber sie schärft die Sinne. Das lyrische Ich nimmt im deutschen Winter nicht nur Kälte, sondern auch Schönheit wahr. Ein tobendes Eichhörnchen im Park, Schneemützen auf einem Bauzaun, ein Vogel mit Silberkragen: Herta Müller nimmt Details genauso in den Blick, wie sie Worte wiegt - mit großer Sorgfalt und einem tiefen Sinn für das Eigenleben jedes einzelnen. Deswegen stehen auch ihre ausgeschnittenen und dann collagierten Wörter optisch zwar alle für sich, mit eigenen Typographien und farblichen Hintergründen, was die Lektüre immer wieder stocken lässt. Aber sie sind stets so gesetzt - also geklebt -, dass beim zweiten oder dritten Lesen eine Poesie entsteht, die die Ungeheuerlichkeit des so dokumentierten Geschehens nicht abschwächt, sondern vielmehr auf ihr Wesentliches konzentriert. Auf ein Paradoxon, aus dem es für den Flüchtling keinen Ausweg gibt. LENA BOPP
Herta Müller: "Der Beamte sagte". Erzählung. Hanser Verlag, München 2021. 161 S., geb.
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