Besprechung vom 20.08.2023
Schreiben, auch wenn die Wörter nie ausreichen
Die Präsenz des verschwundenen Vaters: Der Band "Sprechen lernen" versammelt Hilary Mantels hinreißende, autobiographisch gefärbte Erzählungen
Als Hilary Mantel noch ein Kind war, verschwand ihr Vater für immer. Mantel, die älteste Tochter einer katholischen Familie im ärmeren, grauen und konservativen Nordwesten Englands der Fünfzigerjahre, war sieben Jahre, da zog der Liebhaber ihrer Mutter Margaret, Jack Mantel, bei der Familie ein. Jack und Margaret schliefen in einem Zimmer, Hilarys Vater, Henry Thompson, in einem anderen. Dieses besondere Familienarrangement - Mantel nennt es "bizarr" - wurde in der Nachbarschaft zum Skandal und Hilary zur Zielscheibe von Spott und Beleidigungen. Um dem Klatsch zu entkommen, zog die Familie irgendwann in eine andere Stadt. Henry kam nicht mit. Seine Tochter hat ihn nie wieder gesehen.
Über diesen Verlust und über ihre schwierige Kindheit hat Mantel in ihrer Autobiographie "Von Geist und Geistern" und in verschiedenen Interviews offen und recht sachlich berichtet. Nun, in dem Erzählband "Sprechen lernen", der gerade auf Deutsch erschienen ist, treffen wir wieder auf den verschollenen Vater oder, genauer: auf die Leere, die er hinterlassen hat.
Die Erzählungen dieses Buches, sagte Mantel, seien weniger autobiographisch als "autoskopisch". Sie widmen sich der Betrachtung der eigenen Identität, eines "auf seine bloße Hülle reduzierten" Körpers, "der darauf wartet, mit Sätzen gefüllt zu werden". Es wird etwa von einem Nachbarn erzählt, der von seinem Garten so besessen ist, dass er dadurch den eigenen Sohn in die Verdammnis führt; von einem Sommer, in dem eine Mutter und ihre Tochter, deren Beziehung von Liebe und Geheimnissen geprägt ist, zusammen in einem Einkaufszentrum gearbeitet haben. In jeder der Geschichten scheint etwas Unheimliches unter der Oberfläche zu lauern, das nicht beschrieben oder erklärt wird, doch stets spürbar ist. Und wie ein stilles, melancholisches Gespenst taucht in den meisten Erzählungen immer wieder der verschwundene Vater auf.
"Als ich elf war, nahm mir der Umzug in eine andere Stadt einen meiner Väter, und ich bekam einen neuen Namen", heißt es einmal. In einer Geschichte, die von einem Hund handelt, der eines Tages nicht mehr zu finden ist, steht: "So begannen die Jahre, in denen ich so tat, als wäre ich die Tochter von jemand anderem." An einer anderen Stelle erzählt ein junger Mann von seiner Kindheit: "Wir wohnten in einem Haus, in dem es meiner Meinung nach spukte. Mein Vater war verschwunden, und vielleicht war es seine Gegenwart, schlaksig und bleich, die unter der Tür durchstrich ... An einem stürmischen Märzmorgen um zehn ist er gegangen, hat seine Alben mitgenommen und seinen Tweedmantel ... Wir haben ihn nicht sehr vermisst, nur die kleinen Melodien, die er auf dem Klavier gespielt hat, wieder und wieder."
So präsent wie das Motiv des verschwundenen Vaters ist, es steht nie im Mittelpunkt der Erzählungen. Nach und nach versteht man, dass dieses Motiv vor allem die Veranschaulichung anderer, unartikulierter, doch allgegenwärtiger Gefühle ist, die Mantels Bild von Kindheit und Jugend wesentlich zu bestimmen scheinen: das ständige Gefühl der Bedrohung; die Befürchtung, etwas Schlimmes sei geschehen, worüber man aber nicht sprechen soll; die Angst, geliebte Menschen oder Haustiere könnten sich plötzlich in Luft auflösen, ganze Dörfer im Wasser versinken.
Über diese Gefühle schreibt Mantel mit beeindruckender Schärfe. "Mit sechs schlafe ich im Zimmer meiner Eltern", steht in der letzten Erzählung. "Ich zwinge mich ins Träumen, denke an Jesus, weil ich ermahnt werde, an ihn zu denken; und ich versuche es, ich versuche es wirklich ... Und dann denke ich, dass vielleicht sogar in diesem Moment meine Mutter unten ihren Mantel anzieht und nach ihrer Tasche greift. Ich glaube, dass sie in der Nacht gehen und mich verlassen wird ... Alles geht schief, so schief, dass ich nicht weiß, wie ich es ausdrücken oder begreifen soll."
Dass meist Kinder die Erzähler sind, macht die Geschichten besonders ergreifend. So erzählt eine andere junge Erzählerin: "Ich verkroch mich in mein Zimmer und folgte mit den Fingern den Umrissen Südamerikas. Ich klebte ein Foto Brasílias, der weiß leuchtenden Stadt im Dschungel, in mein Erdkundebuch. Ich legte die Hände zusammen und betete, bring mich dorthin."
Hilary Mantel, die am 22. September letzten Jahres gestorben ist, wurde durch den Erzählband "Die Ermordung Margaret Thatchers" (2014) und vor allem durch die zwischen 2009 und 2020 erschienenen historischen Romane "Wölfe", "Falken" und "Spiegel und Licht" über Thomas Cromwells Aufstieg zur Macht am Hofe Heinrichs VIII. bekannt. "Sprechen lernen" war bereits im Jahr 2003 auf Englisch erschienen - im selben Jahr wie die Autobiographie "Von Geist und Geistern". Tatsächlich kann man die Geschichten in "Sprechen lernen" als tastende literarische Annäherung an die Themen sehen, die Mantel in ihrer Autobiographie direkter, ohne offensichtliche fiktionale Maskierungen behandelt.
Doch das Besondere und Hinreißende an "Sprechen lernen" ist nicht nur genealogischer Natur. Denn das Buch zeugt vom Versuch, anhand von Literatur, mit großer Empathie für die Figuren, einem starken Sinn für Spannung und auch manchmal für Humor und Ironie die eigene Vergangenheit mit all ihren Verletzungen, Traumata und Verlusten zu verstehen. Das ist, wie Mantel selbst weiß, ein verzweifelter Versuch. "Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche - zu beenden und hinter mir zu lassen", schreibt sie am Ende. "Aber sie widersteht dem, und das liegt auch daran, dass Worte nicht ausreichen." Der Vater bleibt verschwunden, Dörfer bleiben versunken.
Und doch, obwohl die Worte fehlen oder grundsätzlich ungenügend sind, schreibt Mantel. Und dadurch schenkt sie dem Kind, das sie gewesen ist, das einen Verlust nach dem anderen ohne weitere Erklärung annehmen musste, eine Stimme und die Chance, endlich gehört zu werden. HERNÁN D. CARO
Hilary Mantel: "Sprechen lernen". Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont, 160 Seiten
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