Die letzten zwei Jahre im Leben eines Familienhunds, durchzogen von Erinnerungen und mit Seitenblicken auf den gebrechlichen Vater der Erzählerin - Stoff für ein Buch, das viele Fragen stellt und so nüchtern-prosaische wie poetische Antworten bereithält. Die drei Töchter der Erzählerin und ihr Mann, der »Hundehasser«, aber auch die drei Hunde, der Vogel und alle anderen Haustiere bilden eine Familie mit einzigartigen Persönlichkeiten. Ihnen allen verleiht die Autorin eine Stimme, begibt sich auf ihre Augenhöhe und zeichnet in kuriosen wie rührenden, amüsanten und nachdenklichen Anekdoten das Bild dieser besonderen Familienkonstellation, wobei oft ein übler Gestank über der Szene liegt. Dabei überlegt sie: Was bedeuten Fürsorge, Verantwortung und Zuneigung zwischen Mensch und Tier? Wie weit reicht das gegenseitige Verstehen? Wo sind Grenzen, wo werden sie überschritten? Das offenbart sich am südkalifornischen Familienwohnsitz ebenso wie in Japan, wo der alte Vater die Tage mit seinem Hund verbringt.
Mit Geduld und Zurückhaltung wird hier beobachtet und zugleich mit Witz, Selbstironie und Sprachgewalt aus den ineinandergreifenden Perspektiven von Mensch und Hund erzählt. Selten hat jemand so offen und schonungslos über Leben und Sterben nachgedacht.
Besprechung vom 12.06.2024
Eine Familie wie die Bremer Stadtmusikanten
In "Hundeherz" denkt Hiromi Ito über Nähe und Ferne zwischen Menschen und Tieren nach
Halsbrecherische Brückenschläge und subtile Verknüpfungen sind die Spezialität von Hiromi Ito. Dem Tod begegnet sie im Leben, dem Heiligen inmitten von Ausscheidungen. Das Komplexe scheint bei Ito einfach, und wenn es darauf ankommt, kann das literarische Alter Ego der Japanerin vor Freude mit den Hüften wackeln wie ihre Hunde vor dem Gassigehen. Wer dabei die bessere Figur macht, ist nicht eindeutig zu entscheiden und auch nicht so wichtig. Denn die Erzählerin schlägt in "Hundeherz" den Bogen vom Menschen zum Hund und zurück, dabei beständig ohne Vorbehalte und Scheu die Blickrichtung wechselnd. Bei Ito ist der Mensch dem Hunde ein Mensch.
"Hundeherz" beginnt ausgesprochen liebevoll. Die sechsundfünfzigjährige Erzählerin sorgt sich um ihre Deutsche Schäferhündin. Take baut im reifen Alter von dreizehn Jahren stark ab. Fast das ganze Leben in Südkalifornien hat die Schriftstellerin mit ihr verbracht, seit sie vor fünfzehn Jahren aus Japan in die Heimat ihres zweiten Mannes gezogen ist. Take ist ein geschätztes Mitglied der fünfköpfigen Familie, eine geliebte Persönlichkeit, eigenwillig und zweisprachig Englisch und Japanisch, wenn auch mit begrenztem Vokabular. Aber nun mag sie nicht mehr spielen, nicht einmal mehr Gassi gehen. Sie ist lahm, fällt ohne Vorwarnung um, schläft viel und sieht dann erschreckenderweise aus wie ein toter Hund. Das erinnert Frauchen an ihren 89 Jahre alten Vater in Kumamoto, zu dem sie alle paar Wochen fliegt, um sich um ihn zu kümmern. Mit diesem ersten Brückenschlag wird aus dem Buch, das bis hierhin auch "Ein Herz für Hunde" heißen könnte, das seltsam wunderbare "Hundeherz".
Zu den Erinnerungen an den greisen Vater treten solche an die vor Jahren gestorbene Mutter und an eine dicke Tante. Als Take wieder einmal von Kot gesäubert werden muss, stützt die Erzählerin die kraftlose Hüfte der Hündin und erschrickt. Einst war Take "nach Menschenmaß eine Frau von Format im mittleren Alter mit dicker, praller Taille", nicht anders als sie. Jetzt ist Take "unvorstellbar schwach, hager, gebrechlich und klapprig", ähnlich wie die stets umfängliche Tante, die mit 80 stolz verkündete, abgenommen zu haben. "Und als ich Take mit dem Arm umfing, kamen mir natürlich als Erstes der Körper und die Gliedmaßen meiner todkranken Mutter in den Sinn und die fragilen Beine meines Vaters (nicht so sehr der Torso). Ach, Pathos ist töricht. Aber mein Zimmer stinkt wirklich gewaltig."
Die Hündin wird um ihrer selbst willen geliebt und ist daher die Stellvertreterin der fernen Eltern. Sie lässt alle Ausscheidungen teilnahmslos unter sich fallen, auf den seltener werdenden Spaziergängen ebenso wie im Haus. Urinseen breiten sich aus, Kothaufen liegen herum, Durchfall schäumt vor sich hin. Und der Vater in Japan erzählt am Telefon, über seine Freizügigkeit selbst verwundert, von Stuhlgang und Windel. Seine Tochter säubert in Kalifornien unablässig Bürgersteige, Haus und Hündin, beim Besuch in Japan auch mal ihren Vater. Ihm und der Mutter ist sie dankbar, dass sie sie seltener als Take in diese Lage bringen oder gebracht haben, um dann erschrocken aufzuseufzen: "Oje, jetzt bin ich in diesem total verkoteten Text auch noch beim Furz gelandet - tut mir leid. Aber es lässt sich nicht vermeiden."
Hiromi Ito, die als Lyrikerin begann, schreibt eine so zärtliche wie unerschrockene Prosa. Ohne Beschönigungen und meist ohne Ekelgefühle denkt sie auf sehr persönliche Weise über Alter und Tod geliebter Wesen nach. "Hundezentriert" ist das Leben ihrer Erzählerin nicht nur wegen Take: Zwei weitere Vierbeiner leben im Haushalt, außerdem ein aggressiver Papagei, und im Umfeld gibt es noch mehr Tiere: eine "Familie wie die Bremer Stadtmusikanten". Allerdings besitzt nur Take ein Hundeherz. Ihr Gesicht drückt Gefühle aus, und sie denkt, während der Zwergspaniel Nico zu kuschen hat und der Schoßhund Louis fett, neurotisch und epileptisch ist. Der einsame Vater der Erzählerin hat Louis als menschliche Gesellschaft missbraucht, worüber dieser sein Hundeherz vergaß. Ihm und Nico wird aber in Kalifornien durchaus Aufmerksamkeit zuteil, so viel etwa wie den drei Töchtern und dem Ehemann, der erst auf Seite 120 die Gunst einer etwas längeren Erwähnung erfährt: "Mein Mann ist ein ziemlich widerwärtiger Hundehasser."
Bei Take ist nicht alles Gold, was scharwenzelt. Die Hündin sei ein Alphatier wie sie, sagt die Erzählerin, weshalb die Tage mit ihr eine "Serie von Selbstbehauptungskämpfen" gewesen seien. Take besuchte die Hundeschule, um die Aggressivität des Schäferhunds kontrollieren zu können. Auf Rüden und gut aussehende Männer freilich reagiert sie regelmäßig wie ein Weibchen: kokett und schmeichelnd. Take sei "hetero und sexistisch", klagt die Erzählerin: "Das ist unfair. Das ist richtig unfair! Mit mir hat noch nie jemand geflirtet." Nicht selten ist der Perspektivwechsel so verschwiegen hurtig wie in diesem Satz.
Ein Bericht aus dem Pflegeheim für enge Familienangehörige ist "Hundeherz" nicht, eher ein bemerkenswert furchtloses Nachdenken über Verpflichtung und Freiheit, Nähe und Ferne zu Menschen wie Tieren. Itos Witz, Ironie und Geistesgegenwart brechen die ewige Wiederkehr der fürsorglichen Verrichtungen auf. Ein impulsiver Erzählton ("Hab's ja schon erzählt"), wache Reflexionen und literarische Anspielungen, auf die die Übersetzerin Irmela Hijiya-Kirschnereit in ihrem gehaltvollen Nachwort hinweist, führen aus dem Monotoniegefängnis der Pflege heraus. "Hundeherz" ist weniger komplex als Itos ebenfalls autofiktionaler Roman "Dornauszieher" (2021), in dem das menschliche Leben zwischen den USA und Japan im Mittelpunkt steht. Aber es vermag das Menschenherz noch der innigsten Katzenliebhaber zu erwärmen. JÖRG PLATH
Hiromi Ito: "Hundeherz". Roman.
Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya- Kirschnereit. Matthes & Seitz, Berlin 2024. 238 S., geb.,
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