Besprechung vom 10.07.2024
Vorsicht, Quecksilber
Holger Teschke denkt über Möwen nach
Das Buch heißt zwar "Möwen", aber der Leser erfährt auch allerlei Dinge, die mit den Vögeln nichts zu tun haben. Zum Beispiel, dass dem Autor, Holger Teschke, die Corona-Maßnahmen schon im Frühjahr 2020 jeden Tag "drakonischer" vorgekommen sind. Oder dass seine Mutter Lust daran verspürt, gegen Autoritäten anzustänkern. Oder dass er 2006 nach Hongkong und 2018 nach Skagen gereist ist. Oder dass die von Caspar David Friedrich zwischen 1801 und 1826 unternommenen Trips an die Ostsee immer wieder der "Suche nach Einsamkeit" galten. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, Möwen, von denen es fünfundfünfzig Arten gibt, seien vor allem deswegen interessant, weil sie zu Exkursen einladen.
Das schließt motivgeschichtliche Abstecher ein, die häufig etwas beliebig, im Grunde zusammengewürfelt anmuten. Das Angebot reicht von Tschechows "Möwe" und dem "Seagull Monument" in Salt Lake City über Hitchcocks "The Birds" bis hin zu Brechts Notiz von 1942, norwegische Zeitungen würden sich nun mit Krähen- und Möwen-Rezepten an die Leser wenden. Mal stößt man auf Überraschendes, etwa den Hinweis, das Berliner KaDeWe habe Möweneier für Gourmets verkauft, bis das Umweltbundesamt 1989 bekanntgab, dass die Delikatesse mit Pestiziden und Quecksilber belastet ist. Dann wieder findet sich Erwartbares, zum Beispiel ein Zitat aus Christian Morgensterns "Möwenlied": "Die Möwen sehen alle aus, / als ob sie Emma hießen. / Sie tragen einen weißen Flaus / und sind mit Schrot zu schießen."
Teschke, Jahrgang 1958, fuhr auf Fischkuttern zur See, arbeitete als Dramaturg am Berliner Ensemble und unterrichtet an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Er versteht es, seinen kulturhistorischen Horizont mit eigenen Erlebnissen kurzzuschließen, scheint von Möwen wirklich fasziniert zu sein - und hätte gerade deswegen mit größerer Sorgfalt auf Brutbiologie, Bestimmungsmerkmale und Verbreitung eingehen können. So heißt es, die Silbermöwe bewohne "die gesamte nördliche Halbkugel unseres Planeten. Ihre Unterarten finden sich vom arktischen Nordamerika bis zu den Azoren und von der marokkanischen Atlantikküste bis zum Kaspischen Meer".
Tatsächlich kommt die Silbermöwe (Larus argentatus) nur in Nord- und Westeuropa vor. Aufgrund genetischer Unterschiede und großer Differenzen der Jugend- und ersten Winterkleider wird die ehemals als Unterart angesehene Amerikanische Silbermöwe (Larus smithsonianus) inzwischen als eigene Spezies gehandelt. Auch die Bemerkung, Möwen hätten "fleischfarbene bis rote Beine" ist achtlos, immerhin lässt sich etwa die adulte Mittelmeermöwe - ihr englischer Name lautet Yellow-legged gull - wegen ihrer gelben Beine gut von der Silbermöwe abgrenzen. Man darf in einem Buch, das nicht bloß Wissenschaftsbefunde referieren, sondern den Blick des Menschen auf Möwen verstehen will, keine ornithologischen Spezialkenntnisse erwarten. Mit den Grundlagen seines Gegenstands sollte der Autor allerdings vertraut sein. KAI SPANKE
Holger Teschke: "Möwen". Ein Portrait.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024. 119 S., Abb., geb.
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