Besprechung vom 18.04.2024
Stay vertical!
Halb Konstruktivist, halb Archäologe: Der Fotograf Horst Hamann verschnürt London in extremen Formaten und legt historische Schichten frei.
Von Freddy Langer
Dass es eines Kolumbus bedurfte, um ein Ei auf einer Tischplatte zum Stehen zu bringen, belegt, wie schwierig es sein kann, ein Problem zu lösen, selbst wenn am Ende primitivste Mittel genügen. Kaum erledigt, wundert sich prompt jeder darüber, wieso niemand sonst auf die Idee gekommen ist. So war es auch bei Horst Hamann.
Als er in den Neunzigerjahren mit einer Panoramakamera die Hochhausschluchten Manhattans fotografierte, kippte er, anstatt den Cinemascope-Effekt zu nutzen, den Apparat kurzerhand um neunzig Grad und interpretierte damit New York so, wie es seltsamerweise niemand zuvor getan hatte, allemal nicht mit solcher Konsequenz. Dabei war erst jetzt das Bild der himmelwärts strebenden Stadt adäquat umgesetzt. Sein Bildband "New York vertical", knapp einen halben Meter hoch, aber keine zwanzig Zentimeter breit, zählt heute zu den am meisten verkauften Fotobüchern der Geschichte. Und die Motive dekorieren längst nicht nur Diner und Raststätten überall auf der Welt, sondern auch Bettwäsche und Krawatten.
"Stay vertical" wurde zu Hamanns Lebensmaxime und das ungewöhnliche Bildformat zu einer Matrix, die er später auch über Paris und jüngst aus Gründen des Lokalpatriotismus über seine Heimatstadt Mannheim gelegt hat. Nun folgte ein prächtiger Bildband mit Fotografien aus London, nicht eben einer Stadt, zu der einem auf Anhieb allzu viel Vertikales einfiele. Der Turm des Big Ben, natürlich, zudem die beiden Hochhäuser, von denen eines wenig freundlich "Gurke" und das andere keineswegs freundlicher "Scherbe" genannt wird. Dann könnte man schon ins Stocken geraten. Nicht so Horst Hamann.
Immer schon, sagt er ganz und gar unaufgeregt, habe sich London dem Himmel entgegengestreckt, und rattert zunächst noch ein paar neue Bauten herunter wie Boomerang, Lombard Wharf und den St George Wharf Tower, um auf die konstante Veränderung des Stadtbilds hinzuweisen, bevor er mit den Schornsteinen der Battersea Power Station, den Türmen von Hammersmith Bridge und Tower Bridge sowie Lord Nelsons Säule am Trafalgar Square immer tiefer in die Geschichte vordringt, nur um sich plötzlich mit einem kurzen Lacher selbst zu unterbrechen. Man würde doch schon, sagt er, als erinnere er sich erst jetzt wieder daran, an der St Pancras Station, kaum dass man aus dem Euro Star gestiegen sei, sehr vertikal begrüßt: "Von den beiden längsten Beinen der Stadt!" Und meint damit Paul Days neun Meter hohe Skulptur eines Paars, das sich am Meeting Point unter der Gewölbedecke des Bahnhofs so herzlich umarmt, dass der Volksmund sie "The Lovers Statue" nennt. Die Beine, sagt Hamann, seien vor mehr als sieben Jahren sein erstes vertikal aufgenommenes Bild in London gewesen. Gleich nachdem er aus dem Zug gestiegen ist. Sie sprangen ihn an, könnte man sagen. Und man würde sich nicht wundern, wenn er sich dabei für einen Moment an den ausgestreckten Arm der Freiheitsstatue erinnert hätte. Den hat er vor dreißig Jahren in der Hafeneinfahrt New Yorks aus dem Kopf des Denkmals heraus aufgenommen.
Dass Horst Hamann ein Spaziergänger der extremeren Sorte ist, weiß man spätestens seit seinem Buch "One Night on Broadway", für das er zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang die Hauptstraße New Yorks von einem Ende Manhattans zum anderen abgelaufen ist. London hat es ihm schwerer gemacht. Hier hat er die Stadt in Distrikte eingeteilt, die er schematisch in langen Touren zu Fuß erkundete. Und sich erschwitzte, wie er sagt. Hin und her, kreuz und quer. Dabei hat er bisweilen stundenlang auf den richtigen Lichteinfall gewartet und war leider meist von Regen und Nebel verlassen, denn nur allzu gern hätte er wenigstens auf ein paar Bildern das Klischee vom Londoner Dreckswetter erfüllt.
Den Fotoapparat hatte er um den Hals gehängt, aber unter einem Schal versteckt, weiteres Gepäck hatte er keines dabei, gerade so, als wohne er in der Gegend und sei nur einer kurzen Erledigung wegen unterwegs. Doch betrachtet hat er die Viertel wie ein Fremder, abgescannt könnte man fast sagen. Denn nicht länger sucht Hamann nur nach auffallend Hohem, sondern nach Wirklichkeitsausschnitten, in denen er die Idee der Vertikalen innerhalb seiner Extremproportionen phantasievoll anlegen kann. Seine Bilder sind deshalb jetzt viel weniger Dokumentation als Interpretation. Es sind Kompositionen eines Gefühls und zugleich einer eigentümlichen Betrachtung, nämlich der, als habe man den Kopf beim Spazierengehen zur Seite gelegt. Während das Panoramaformat mit dem Bildwinkel von knapp hundert Grad dem Eindruck, den ein Mensch mit zwei Augen von der Welt gewinnt, sehr nahe kommt, zeigen uns Hamanns Bilder, was wir sähen, säßen unsere Augen übereinander. Es ist ein verengter Blick, und doch bietet er die Möglichkeit zu neuen Einsichten.
Das mündet bisweilen in optische Spielereien, wenn Hamann in konstruktivistischer Manier Gerüste, Verstrebungen oder Säulen als aufgelöste Gitter in den Vordergrund rückt und das Motiv in viele Einzelteile zerlegt. Aber es gelingt ihm auch, einem Archäologen gleich, die Spuren der Geschichte in übereinander liegenden Schichten bloßzulegen, ohne Horizont, ohne optische Tiefe - dafür in einer bildnerischen Raffinesse gebannt, die direkt in das Wesen der Stadt hineinführt. Dann ragt etwa die viktorianische Fassade von Old Billingsgate über ein Frachtschiff am alten Kai der Themse und wird selbst wiederum überragt vom dreihundert Jahre alten Turm der St Margaret Pattens Church, den ein Kran und die silbern glänzende Versorgungsröhren des Lloyd's Building flankieren - und der wiederum überragt wird von der gläsernen Fassade eines streng-modernistischen Hochhauses. Wenn es für die Vokabel Konglomerat je eine überzeugende optische Umsetzung gegeben hat, dann ist es diese Aufnahme.
New York, Paris, London: Was Hamann nach nunmehr dreißig Jahren vorlegt, ist eine Trilogie des Hochgefühls. Dennoch mag man an ein Ende nicht glauben. Tokio, Dubai und Astana ergäben eine ebenso schöne Liste. Nach oben ist noch reichlich Luft.
"London vertical" von Horst Hamann. teNeues Verlag, Augsburg 2023. 190 Seiten, 85 Schwarz-Weiß-Fotografien. Gebunden
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.