Eine Geschichte über Freundschaft, Trauer und eine Liebe, die alles infrage stellt
Jean Tobelmann, Gastronom in dritter Generation, hat einen eigenwilligen Stammgast - der junge Sourie erforscht mit leidenschaftlichem Ernst, wovon die meisten Menschen lieber schweigen: das Ende des Lebens. Warum? Tobelmann geht der Geschichte des humorvollen Exzentrikers auf den Grund und stößt dabei auf etwas, das verständlicher und zugleich unbegreiflicher nicht sein könnte, etwas, das weit über Souries Amour fou mit der gemeinsamen Freundin Tessa und die Verbundenheit der beiden Männer hinausweist.
Schwerelos, mit feiner Ironie und Beobachtungsgabe erzählt Husch Josten von den Fallstricken des Lebens. Von wahrer Freundschaft, falschen Entscheidungen, der Suche nach Sinn und von der Liebe - unserer einzigen Waffe gegen die Sterblichkeit.
»Achtung: Dieses Buch könnte Ihre Einstellung zum Tod beeinflussen. Sie könnten ihm gelassener entgegensehen, vielleicht sogar über ihn lachen. Oder das Gegenteil. Ein großer Roman über Leben und Sterben. Klug und heiter, sprachgewaltig und tiefgründig. « Bettina Böttinger
»Husch Josten erzählt zart und provozierend klug eine gewaltige und unvergessliche Geschichte über Liebe und Tod. Es wird höchste Zeit, dass Josten endlich ihren Platz in der ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einnimmt. « Denis Scheck
Besprechung vom 09.10.2024
Todannäherungstherapie
Das Leben auf den Kopf gestellt: Husch Jostens Roman "Die Gleichzeitigkeit der Dinge"
"Mit fünf Jahren bekam ich eine erste Schreibmaschine und nervte die Familie mit Geschichten." Dabei ist es geblieben. Husch (eigentlich Hildegard) Josten, geboren 1969 in Köln, studierte Geschichte und Staatsrecht in ihrer Heimatstadt und in Paris, lebte einige Jahre als Journalistin in London, aber das literarische Schreiben ist ihre Leidenschaft geblieben. Nun liegt ihr achter Roman vor: "Die Gleichzeitigkeit der Dinge".
Im Mittelpunkt steht ein sehr ungleiches Trio von Freunden: Jean Tobelmann, in dritter Generation Gastronom, führt als Ich-Erzähler durch den Roman, zu seinen Stammgästen zählt ein siebenundzwanzigjähriger ungebärdiger Mann namens Sourie von deutsch-französischer Herkunft, und als Dritte im Bunde kommt die Fotografin Tessa hinzu. Eigentlich haben sich Jean und Sourie in nächtelangen Wirtshausgesprächen angefreundet, aber das Auftauchen von Tessa sprengt die alten Verhältnisse, Sourie und Tessa verlieben sich ineinander, Jean verfolgt neidlos das neue Bündnis, beobachtet und kommentiert: "Sie miteinander zu sehen, war so verwirrend wie die zufällige Begegnung mit Menschen, die man sonst nur in einer bestimmten Umgebung trifft und in jeder anderen nicht zuordnen kann. Ich wusste nicht, dass sie sich kannten, und da sie derart unterschiedlichen Bereichen meiner Welt angehörten, kam ihr Zusammentreffen für mich der Kollision zweier Planeten gleich." Es war ein heißer Sommer, später hat sich in Paris der Anschlag im Bataclan ereignet, bei dem Sourie seinen besten Freund Thibault verlor. "Eine diffuse Unruhe breitete sich aus", merkt Jean an, "es war das Jahr, in dem das kollektive Empfinden, das sich die Dinge ändern müssen, zur alarmierenden Gewissheit wurde, worauf die politischen Lager in sämtliche Himmelsrichtungen losstürmten."
Das ist eine typische Konstellation für Jostens Romankonstrukte. Es gibt meist einen aktuellen Anlass, um den sich persönliche Grundsatzfragen ranken, die dann in mäandrierenden Gesprächen erörtert werden. Der Roman hebt an mit dem Satz: "Sourie freute sich auf den Tod." Ein verstörender Satz, der bis zum Schluss keine wirkliche Aufklärung findet.
Tessa ist mit dem Tod ihrer Eltern konfrontiert, die kurz nacheinander im Kölner Altersheim "Augustus" sterben, in dem Sourie als Pförtner tätig ist. Tessa wird in eine neue Lebensphase hineingezogen: Wie erleben Menschen den Tod, nicht das Altern, sondern die Vorbereitung auf das Ableben. Die meisten Insassen des Heims klagen: "Das ist doch kein Leben mehr." Minutiös und einfühlsam erzählt die Autorin, wie dieser letzte Lebensabschnitt von den Heimbewohnern erlebt und empfunden wird. Der Tod ist kein Tabu mehr, er gehört zum Leben als unausweichliche Gewissheit.
Sourie, ein belesener und querdenkender junger Mann, der vom Alter her der Sohn von Tessa sein könnte, nimmt sie in seine Obhut. Er belehrt Tessa: "Denk daran, was ich immer sage: Man muss sich dem Tod nähern. Nicht nur, wenn er einen selbst angeht, sondern man sollte sich frühzeitig mit ihm beschäftigen. Mit seiner Allgegenwart. Damit, dass er jeden, absolut jeden betrifft." Sourie macht Tessa einen Vorschlag, den sie auch gemeinsam realisieren. "Er hat mir vorgeschlagen, die erste Botschafterin gegen Einsamkeit im Augustus zu werden. Gemeinsam mit ihm alle Menschen zu besuchen. (...) Trauertherapie für mich, Ehrenamt für ihn. Todannäherungstherapie für weitere folgende Botschafter."
Um dieses Thema kreist der Roman in vielen Facetten, mal als philosophischer Diskurs, mal als religiöse Exegese, mal als pfiffiges Streitgespräch, mal als zarte Liebesgeschichte. Eigentlich steht Sourie im Mittelpunkt des Trios mit seinen ausgefallenen Ideen und Gedanken, er ist ein undurchschaubarer Überflieger. Und plötzlich kommt ein jäher Einschnitt. Der Ehemann von Tessa, mit dem sie auch zwei Söhne hat, entdeckt das Paar gemeinsam im Fahrstuhl. Bei der Aussprache gesteht der Ehemann, dass auch er eine Affäre hat. Tessa stürzt in einen Abgrund und zieht sich zurück. Sourie bricht auf nach Norwegen, um zu wandern. Aber er kehrt nicht zurück. Alle treffen sich wieder in einem kleinen norwegischen Ort an seinem Grab. War es ein Selbstmord, den Sourie vorher immer für sich abgelehnt hatte? Große Ratlosigkeit und Verwirrung, keiner findet eine Erklärung.
Diese Umdrehung der Realität ist charakteristisch für Husch Josten. Sie liebt es, Gewissheiten plötzlich auf den Kopf zu stellen, die Karten neu zu mischen. Tessa macht sich Vorwürfe, ob sie die Schuld am Tod des Geliebten trägt. Wie eine dea ex machina taucht eine alte Freundin von Sourie bei Jean auf und klärt die möglichen Hintergründe für Souries plötzliches Ableben auf. Es geht um die Ermordung Thibaults. Sourie, der Freund und die Freundin waren zu dritt ins Bataclan gegangen, was dann passierte, als die tödlichen Schüsse fielen, soll hier offen bleiben.
Es ist eine komplizierte, verschachtelte Geschichte, die die Autorin nuancenreich in Szene setzt. Jede Person schillert durch verschiedene Identitäten. Die große und die kleine Welt sind aufgeladen von Spannungen und Geheimnissen. Es knistert, schlägt Funken und bleibt doch der Realität eng verhaftet. Ein Heimbewohner spricht am Ende des Romans das entscheidende Wort: "Es gibt keinen richtigen Umgang mit der Sterblichkeit. Es gibt so viele, wie es Menschen gibt." LERKE VON SAALFELD
Husch Josten: "Die Gleichzeitigkeit der Dinge". Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2024. 224 S., geb.
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