»Igiaba Scego ist Italiens zurzeit wohl interessanteste Schriftstellerin. « Frank Hornig, Der Spiegel
Wie erzählt man die Geschichte einer Familie, wenn die gemeinsame Sprache in der Diaspora verloren geht? Wenn die Erinnerungen trügen und geliebte Verwandte seit Generationen in die ganze Welt zerstreut leben? In ihrem gefeierten autofiktionalen Roman geht die große italienische Erzählerin Igiaba Scego auf Spurensuche zwischen Mogadischu und Rom. Sie erzählt von verloren geglaubten Müttern und wiedergefundenen Brüdern, von einer Kindheit als Hirtin und der Schule in Rom-Nord, von Verletzungen der Kolonialgeschichte, die sich über die Generationen tragen - und von der großen Hoffnung, die im Erzählen liegt.
»Scego schreibt blendend und dringlich, in einer Sprache, die ganz ihr gehört. Dieses Buch muss gelesen werden. « Jhumpa Lahiri
»Eine der wichtigsten Stimmen Italiens. « The Guardian
Besprechung vom 12.10.2024
Eine Unterjochte, die endlich auch Teil der Geschichte werden will
Diese Schriftstellerin hat in Italien längst Furore gemacht, jetzt wird endlich auch etwas von ihr übersetzt: Igiaba Scegos Roman "Kassandra in Mogadischu" erzählt autobiographisch von einer durch Kolonialismus und Migration geprägten Familie, die von ihrer somalischen Heimat nicht loskommt.
Von Niklas Bender
Von Niklas Bender
Deutschland gibt viel auf seine Kultur des literarischen Übersetzens und versteht sich als eine Art Büchermarkt der Welt, die sie als Gastländer zur Buchmesse einlädt. Oft überzeugt das, in Igiaba Scegos Fall jedoch liegt ein Marktversagen vor: Die Schriftstellerin ist seit mindestens zehn Jahren bekannt, wird mitunter als wichtigste Stimme Italiens gehandelt (nach Elena Ferrante, versteht sich), aber erst jetzt hat ein größerer deutscher Verlag die Übersetzung ihrer Werke gewagt. Welche Chance damit bislang vertan wurde, davon kann sich der Leser von "Kassandra in Mogadischu" überzeugen: Italien als Gastland zu haben erlaubt in diesem Fall, Versäumtes nachzuholen.
Kernthema von Scegos Schreiben ist die Exilsituation ihrer weit verstreuten Familie: Einerseits schildert sie migrantische Existenzen, andererseits evoziert sie die Geschichte Somalias, der früheren italienischen Kolonie am Horn von Afrika, die heute nach einer kurzen demokratischen Blüte in Diktatur und Bürgerkrieg zerfallen ist. Scegos Besonderheit im Feld der Migrationsliteratur ist, dass ihre Familiengeschichte von der niedersten bis auf die höchste Ebene mit der des Herkunftslandes verschlungen ist. Denn die 1974 in Rom geborene Schriftstellerin ist Tochter einer Hirtin und eines ehemaligen Ministers und Diplomaten: Ali Omar Scego musste 1970 vor dem Militärdiktator Mohammed Siad Barre fliehen, der sich gerade an die Macht geputscht hatte.
"Kassandra in Mogadischu" ist kein Roman im engeren Sinn, sondern wie "La mia casa è dove sono" ("Mein Haus ist, wo ich bin", 2010) ein biographischer Bericht. Diesmal nimmt er lose die Form von Briefen an Scegos Nichte Soraya an, die in Kanada lebt. Mütterlich vermittelt Scego Familienwissen: Ausgehend vom konkreten Zusammenleben mit ihrer eigenen Mutter, ihrer Hooyo, in Rom unternimmt sie weite Streifzüge in die Vergangenheit. Kern der Ereignisse ist das Jahr 1991, in dem der somalische Bürgerkrieg offen ausbricht - ein Krieg, in den Hooyo sehenden Auges hineingeht. Gut zwei Jahre verschwindet sie im Chaos - "ganz Somalia war nur Blut, Schlamm, Scheiße" -, während Mann und Tochter in Rom um sie bangen. Die Tochter wird magersüchtig und vergräbt sich in der Stadtbibliothek des Viertels, wo sie Bücher zum Thema Krieg verschlingt: "Auf der Suche nach meiner Mama. Ich suchte sie zwischen den Bibliotheksregalen."
Die Abwesenheit der Mutter wird zu ihrem Jirro-Erlebnis. Dieser Begriff, somalisch für "Krankheit", ist das Kernkonzept des Buchs: Er bezeichnet das Mangelgefühl der "Entwurzelten", zu denen Scego sich zählt, ein "Staub, der durch unseren Körper reist und uns betäubt, allen voran unsere inneren Organe, die wie verschluckt sind von einer düsteren Macht". Bei Scego schlägt sich diese Macht im selbst provozierten Erbrechen nieder, einem "heiligen Ritual", das sie sich aufzwingt: "Ich kotzte Granatwerfer, Revolver, Maschinengewehre. Und Scharfschützengewehre, Kalaschnikows, Handgranaten, Aerosolbomben. Hin und wieder kotzte ich einen Dolch. Manchmal sogar einen Speer oder ein Schwert." Die Schilderung der Sechzehnjährigen, die sich von ihren Altersgenossen abwendet und vom familiären Leid verschluckt wird, liefert einige der eindrucksvollsten Szenen des Buches. Aus der existenziellen Not heraus fängt sie an zu schreiben.
Der Jirro der Familie fängt früher an, mit der eher zufälligen Ermordung ihres jungen Onkels Osman 1968. Im Grunde aber, das zeigt "Kassandra in Mogadischu" mittels eines Gewimmels auf den ersten Blick anekdotischer, auf den zweiten raffiniert verbundener Geschichten, ist der Wurm schon lange im Apfel: Seit dem neunzehnten Jahrhundert zieht der Kolonialismus eine Spur der Gewalt durch das Land, die immer neue Gewalt hervorbringt. Einer der Großonkel hat ihrer Mutter den Krieg gegen das benachbarte Äthiopien so beschrieben: "Wir haben sie abgemurkst wie die Ameisen und uns alle ihre Frauen genommen." Scego errichtet keine Opferstatuen: Auch Kolonisierte werden von der "Todesenergie" erfasst und machen sich als "grausame Peiniger" über ihre Nächsten her.
Diese illusionslose Sicht auf die Ereignisse verbindet Scego mit der mythischen Figur Kassandra, jener trojanischen Königstochter, die mit Weissagung begabt war, der aber - so Apollons Strafe - niemand glauben wollte. Zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1991, den die jugendliche Scego auf einer Party verdauen muss, schlüpft sie erstmals in diese Rolle: "Was, wenn ich diese Kassandra wäre, Soraya? Eine Kassandra, die den Jirro über die Kontinente herrschen sieht." Christa Wolfs Kassandra wird als Motto zitiert, ein Verweis auf das feministische Potential des Mythos; tatsächlich ist diese Perspektive im Roman präsent, manchmal etwas plakativ, wenn Krieg und Kolonialismus auf Vergewaltigung zugespitzt werden - "mit Geld und Macht wollten sie Vaginen kolonialisieren".
In den pathetischen Liebeserklärungen an die Familie kann der Ton gleichfalls kippen, während Gewalt und Leid souverän geschildert werden; insgesamt bewahrt Scego große Hellsichtigkeit. Das zeigt sich deutlich, als sie ihre Mutter dreißig Jahre später fragt, warum sie damals ins kriegsgefährdete Somalia gereist ist. Die verdutzte Tochter erfährt, dass ihre Mutter sicher gewesen sei, "dass meine Familie, mein Clan, mein politisches Lager, mein qabil, die Knochen meiner Vorfahren, in diesem Krieg siegen würden". Und: "Ich wollte auch Teil der Geschichte sein. Des Ruhms. Unseres Sieges. Der Nation. Mir meinen Teil der Beute und der Zukunft sichern." Die Begründung klingt frivol angesichts der Umstände. Allerdings wird der Eindruck relativiert, indem eine Episode nachgeschoben wird, die kurz vor der Abreise spielt: Nach dreistündiger Anreise zu einem neuen Job als Putzfrau wird die Mutter wegen ihrer Hautfarbe als "Abschaum" verjagt. "'Welcher Krieg, mein Kind?', hat sie geantwortet. 'Der hier in Rom oder der in Mogadischu?'"
Basso continuo ist die Identität. Die der Autorin ist gemischt: Sie lebt seit je in ihrer Geburtsstadt, nur als Kind hat sie anderthalb Jahre in Mogadischu verbracht; Scego bezeichnet sich folgerichtig als Römerin oder auch als "Afro-Euro-Politin". Ans Italienische knüpft sie ein verworrenes Band: "Italienisch, die Sprache derer, die unsere Vorfahren in Baraawe und Mogadischu kolonialisierten, die den einstigen Feinden und Sklavenhändlern gehörte und nun in einer Generation, die von meiner Mutter zu mir reicht, zur Sprache unserer Herzensbindungen, unserer innersten Geheimnisse geworden ist. Zur Sprache, die uns trotz ihrer Widersprüche vollständig macht." Die Sprache selbst hingegen scheint nicht ganz vollständig zu sein: Scego verwendet zahlreiche somalische Ausdrücke, gerade um Intimes wie Familiennähe oder Emotionen zu bezeichnen.
Auch die kulturelle Sprache Scegos ist ein fröhlicher Mix, in dem die Referenzen durcheinanderwirbeln, von Dante und der Lieblingsautorin Jane Austen bis zu Malcolm X und Agatha Christie; neben den Hauptthemen verhandelt sie unzählige weitere: Augenkrankheit, Näharbeit, Irakkrieg. Was "Kassandra in Mogadischu" jedoch zu einer überzeugenden, ja begeisternden Lektüre macht, ist ein charakteristischer Stil: Scego gelingt es, Emotionen, Ironie und hintergründige Vernetzung zu kombinieren und sich dabei stets treu zu bleiben. Kassandra hin oder her, im Ton ist Scego keine leidende Trojanerin: Lachen und Liebe sind allgegenwärtig.
Igiaba Scego, "Kassandra in Mogadischu". Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024. 414 S., geb.
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