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Besprechung vom 27.10.2023
Stand er tatsächlich in einer Reihe mit Adenauer?
Kommunist, Staatsmann und aktenfressender Apparatschik: Ilko-Sascha Kowalczuk beschreibt den Aufstieg Walter Ulbrichts bis 1945 als biographisch getönte Institutionsgeschichte.
In die gegenwärtige Renaissance der DDR im kulturellen Gedächtnis fügt sich eine neue Biographie des Mannes, der die Geschichte des deutschen Kommunismus stärker und länger als jeder andere geprägt hat: Walter Ulbricht. Von einstigen Weggefährten gern als "Genosse Zelle" und "Professor Unrat der Revolution" tituliert, der seine präzis funktionierenden Beamtenintrigen für machiavellistische Staatskunst hielt, sagte man ihm schon in den Weimarer Jahren eine eisige Aura der Unnahbarkeit nach oder gar ein "vor Bosheit steifes Gesicht" (Gustav Regler). So ist er in die Geschichte eingegangen: ein humorloser Holzkopf von doktrinärer Härte, an dem selbst Heinrich Mann im Pariser Exil während der Volksfrontverhandlungen verzweifelte, weil er sich außerstande sah, mit einem Mann zu verhandeln, der plötzlich behaupte, dass der Tisch, an dem man säße, kein Tisch sei, sondern ein Ententeich.
Ilko-Sascha Kowalczuks Ulbricht-Biographie ist nicht das erste, aber das bei weitem gründlichste und in mancher Hinsicht auch erstaunlichste Porträt des Mannes, der sich vor 1933 bis in die Parteiführung der KPD hocharbeitete und dort auch im Moskauer und Pariser Exil behauptete, um nach 1945 für ein Vierteljahrhundert die kommunistische Herrschaft in Ostdeutschland zu verkörpern.
Für die Beweisführung wird aufgeboten, was nur gefordert werden kann: analytische Präzision und Mut zur Neudeutung. Die eintausend Seiten und über viertausend Fußnoten des vorliegenden ersten Bandes von Kowalczuks Ulbricht-Porträt künden von dem hartnäckigen und andauernden Ringen mit einem historischen Akteur, dessen persönliche Verschlossenheit und dessen konspiratives Politikverständnis sich solcher Spurenverfolgung mit derselben Hartnäckigkeit verweigert, mit der der Biograph sie betreibt.
Das Ergebnis ist beeindruckend. Detailliert und gründlich zeichnet der Autor die politische Karriere des Parteibürokraten nach, und er räumt mit vielen Unschärfen und Irrtümern der bisherigen Ulbricht-Biographik auf. Wie er belegen kann, folgte Ulbricht anders, als bislang angenommen, keineswegs sklavisch wechselnden Mehrheiten, sondern entwickelte sich als Parteichef erst in Thüringen und später in Berlin-Brandenburg zu einem eigenständigen Politiker, der in den Konflikten der Weimarer Jahre ebenso mutig Partei nahm wie später in den Fraktionskämpfen der Exilzeit, um schließlich in Moskau die Intrigen und Anschuldigungen während des Großen Terrors unbeschadet zu überstehen und keineswegs zufällig zum eigentlichen Parteiführer der illegalen KPD aufzusteigen.
Eine solche Urteilskorrektur war überfällig, und sie ist Kowalczuks Verdienst. Doch der Autor will mehr - er ficht für eine umfassende Neuzeichnung des Ulbricht-Bildes. Der farblose Unsympath mit dem kalten Blick und der dünnen Fistelstimme, der politische Befreiung in autoritäre Organisation übersetzte, er wird in der Sicht seines Biographen zum wichtigsten deutschen Kommunisten, ja sogar zum Staatsmann, in einer Reihe stehend mit seinen Bonner Kontrahenten Konrad Adenauer und Willy Brandt.
Wie passt dieses Urteil zu den entgegenstehenden Eindrücken und Urteilen so vieler einstiger Weggefährten aus der Zeit vor 1945? Deren fast durchweg kritische, häufig feindselige Bewertung führt Kowalczuk in seltsamer Annäherung an kommunistisches Lagerdenken zum einen darauf zurück, dass sie von später in den Westen geflohenen "Renegaten" stammten, und unterwirft sie zum anderen umstandslos den Wertmaßstäben der Gegenwart: Die herabsetzende Schilderung des unansehnlichen Mannes mit den schwimmenden Augen und der vermatschenden Sprache wird Kowalczuk zum irritierenden Bodyshaming; das Kehlkopfleiden, das Ulbricht so viel bösartige Häme eingetragen habe, deutet der Biograph als schmerzvoll erlittene Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrung. Zuweilen nimmt Kowalczuks Argumentation sogar Anleihe bei der zeitgenössischen Hagiographik der frühen DDR. So, wenn es etwa heißt, dass Walter Ulbricht "ganz glücklich" sei, einen Flugblattdruck zustande gebracht zu haben, oder der Autor findet, dass sein Held "vielleicht kein Bibliophiler, aber ein großer Bücherfreund" war. Auch die Feststellung, dass tschechoslowakische Fragen zeitlebens ein besonderes Augenmerk für Ulbricht blieben, wirkt angesichts von dessen Bereitschaft zur Beteiligung am sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 doch allzu glättend.
Wie lässt sich eine solche Interpretation einordnen? Ist sie eine Folge der biographischen Falle des "tout comprendre, c'est tour pardonner", die jeder historischen Betrachtung droht, die sich zu tief in ihren Gegenstand versenkt? Eher lässt sie sich aus der besonderen Quellenlage herleiten, mit der die biographische Erschließung der kommunistischen Weltbewegung seit jeher zu kämpfen hat: Die oft genug mit Decknamen operierenden Akteure der kommunistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit lassen sich nur schwer als Charaktere greifen; sie verbergen schon der Mitwelt und erst recht der Nachwelt ihr persönliches Denken und Fühlen hinter ihrer politischen Funktion, und sie verschwinden immer wieder gänzlich hinter der Partei, der sie dienen. Wohl ist die Überlieferung im deutschen wie im russischen Parteiarchiv denkbar breit - doch aus Redemanuskripten und Zeitungsartikeln oder sechshundert Seiten starken Wortprotokollen von vielstündigen Komintern-Beratungen lässt sich ebenso wenig wie aus Moskauer Kaderakten oder den in der DDR verfassten "Veteranenzeugnissen" ein farbiges Persönlichkeitsbild entwickeln; sie spiegeln vor allem die tote Blässe einer Bewegung, die ihre Lebendigkeit ganz auf die mythisierte Partei übertragen hat.
Umso dankbarer greift Kowalczuk nach den wenigen überlieferten Zeugnissen des privaten Lebens Ulbrichts. Doch selbst die etwa sechzig Briefe, die er mit seiner Geliebten und späteren Ehefrau Lotte Kühn während der Moskauer Exiljahre wechselte, bieten wenig Aufschluss. Sie geben Kowalczuk zu erkennen, dass Ulbricht nicht gern früh aufstand, und lassen den Biographen ernsthaft darüber rätseln, warum die beiden sich wechselseitig mit "Schufterle" anredeten. Mehr als die Erkenntnis, dass selbst ein Mann wie Ulbricht neben dem amtlichen ein privates Gesicht hatte, gibt auch diese Quellengattung nicht her.
Blutlos bleibt in Kowalczuks Buch insgesamt das Personal, das die historische Bühne der KPD-Geschichte in der Weimarer Zeit und dann in der Illegalität bevölkerte. Wie Schemen huschen Ernst Thälmann und Herbert Wehner, Wilhelm Pieck und Franz Dahlem, Dmitri Manuilski und Georgi Dimitroff und eine Fülle weiterer plötzlich auftauchender und wieder verschwindender Namen durch eine unendliche Abfolge von Konflikten und Episoden, die sich nicht leicht zu einer zusammenhängenden Erzählung fügen. Es nimmt daher nicht wunder, dass Kowalczuks Biographie vielfach überlang an Einzelthemen der KPD-Geschichte wie der Rolle des Bezirks Thüringen oder der Verhaftung Thälmanns im März 1933 verweilt, in denen Ulbricht selbst nur am Rande erscheint.
So verkörpert Ulbricht am Ende auch für seinen jüngsten Biographen nur jenen aktenfressenden Apparatschik par excellence mit dem phänomenalen Gedächtnis, als der er schon den Zeitgenossen erschienen war und dem die Durchorganisierung der Partei als politische Hauptaufgabe galt. Zu diesem Ergebnis trägt bei, dass Kowalczuk den einschneidenden Zäsuren der Weimarer KPD-Geschichte wenig Aufmerksamkeit schenkt und auch einer Unterscheidung von Leninismus und Stalinismus nichts abgewinnen kann. So gleicht sein Bild der kommunistischen Bewegung ungewollt dem ihres Parteisoldaten Ulbricht - beiden waren in Kowalczuks Verständnis stalinistische Zentralität und Moskauhörigkeit von Beginn an ebenso genetisch eingeschrieben wie die erbitterte Bekämpfung der unentwegt als "sozialfaschistisch" denunzierten SPD. Folgerichtig mischt sich auch in Kowalczuks Ulbricht-Porträt ein Farbton jener lebensgeschichtlichen Unwandelbarkeit, die das Grundmuster kommunistischer Ich-Erzählungen vor und nach 1989 bildet. Ganz in ihrem Duktus verfolgt er die unbeirrbare politische Haltung seines Helden bis in die Revolutionszeit 1918/19 zurück und schließt am Ende mit der Feststellung, dass Ulbricht wurde, was er werden wollte: der kommunistische Diktator in Deutschland.
Insgesamt erweist sich die überaus gründlich recherchierte Ulbricht-Biographie in ihrem ersten Band weniger als ein Politik und Persönlichkeit verknüpfendes Lebensbild denn als biographisch getönte Institutionsgeschichte. Sie veranschaulicht einmal mehr in bedrückender Intensität die Realitätsverkennung und Richtungskämpfe der früh unter Stalins Räder gekommenen KPD, die in ihrem heroischen Widerstand nach 1933 immer weiter auf ihre Führungszirkel zusammenschmolz. Aber die Menschen, die für diese Partei Opfer brachten und Opfer forderten, die für sie lebten und für sie starben, bleiben ausdruckslos. Vielleicht kann das allerdings auch nicht anders sein bei einer abgeschotteten kommunistischen Avantgarde, deren Charisma spätestens nach der Verhaftung von Ernst Thälmann im März 1933 nur mehr die Partei verkörperte und nicht ihre Träger. Es bleibt abzuwarten, ob in dem für das Frühjahr 2024 angekündigten Folgeband mehr Licht durch den Staub der archivierten Parteiunterlagen auf den "Karthekowitsch" Walter Ulbricht fallen wird, dessen Identität und Ausstrahlung zumindest bis 1945 allein in der Institution gründete, der er sein Leben gewidmet hatte. MARTIN SABROW
Ilko-Sascha Kowalczuk: "Walter Ulbricht". Der deutsche Kommunist. (1893-1945).
C. H. Beck Verlag, München 2023. 1006 S., geb.
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