Während innerhalb Russlands das Verbot kritischer Medien und die Gleichschaltung der verstaatlichten Sender eine beinahe karikaturhafte Erzählung über traditionelle Werte und die Notwendigkeit der »Militärischen Spezialoperation« hervorbringen, arbeiten sorgfältig geplante Propagandaaktionen im Rest der Welt an der Destabilisierung demokratischer Gesellschaften. Ein planmäßiger Wahnsinn überzieht das Land. Er zeigt sich in inflationär gebrauchten Euphemismen und Hassrede, als Denunziation und in einem bis ins Subtilste durchdachten Strafregime. Und es ist ein Wahnsinn mit Geschichte. Denn die Gewalt, die die russische Gesellschaft unerbittlich im Griff hat, ist eine Fortführung der paranoiden Suche nach Feinden, der nächtlichen Verhaftungen, Durchsuchungen und Folterungen sowie der Gulags aus dem Sowjetregime - in grellem, neuem Gewand und verschmolzen mit dem Gangstertum der Neunzigerjahre.
In ihrem einzigartigen Ton, der so präzise wie ironisch ist, zeigt Irina Rastorgueva in einer Montage aus Zeitungsfundstücken und unabhängigen Berichten, aus der eigenen Erfahrung genauso wie aus der Analyse kremlkritischer und russlandtreuer Autoren das Wirken der russischen Selbstvergiftung.
Besprechung vom 02.11.2024
Ach was, die Briten essen also Eichhörnchen?
Absurditäten und Hetzreden: Irina Rastorgueva zeichnet ein Bild der russischen Propaganda
Die Ukraine wird von Nazis regiert, ukrainische Nationalisten schneiden lebende Menschen in Stücke, die Mordtaten von Butscha sind eine Fälschung westlicher Medien, die Russische Revolution 1917 war das Werk des Westens zur Destabilisierung Russlands, Russland wird belagert, der Westen will das Land zerstören, der Westen ist "Gayropa", in dem "Raptoiden" leben, das heißt mithilfe von Weltraum-Gentechnik erzeugte Lebewesen, die Demokratie und Liberalismus anhängen, Finnland will St. Petersburg angreifen, Briten hungern und essen deswegen die Eichhörnchen aus den Parks, im eigenen Land lauern Volksverräter, Missgeburten und Bastarde, durch Oralsex gelangt Sperma ins Gehirn und erzeugt Krebs.
Hunderte von Lügen, Absurditäten, Verschwörungstheorien, Fake-News, Hetzreden und Desinformationen aus Putins Russland versammelt dieses Buch. Keine Aussage ist zu abwegig, um nicht den Weg in die russischen Medien zu finden. Das Prinzip dahinter ist spätestens seit der Eroberung der Krim 2014 deutlich: Je grotesker, realitätsfremder, abstruser und unwahrscheinlicher die Lüge, desto eher muss doch etwas an ihr dran sein, denn dergleichen kann sich ja kein Mensch ausdenken.
Irina Rastorgueva, russische Autorin im Berliner Exil, dokumentiert diese wahnhaft ins Kraut schießenden Landschaften der Lüge und ihre Folgen. Auf jeder Seite des Buches geht die Vernunft k. o. Nicht nur ein paar spezialisierte Institutionen setzen baren Unsinn in die Welt, sondern die Propaganda ist allgegenwärtig auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft: in den Schulen, den Universitäten - vom "Tod der Wissenschaft" schreibt die Autorin -, im Militär, in der orthodoxen Kirche, in Film und Theater, im Privatleben und in jedem Winkel des russischen Alltags. Sie wird verbreitet, geglaubt und weiterverbreitet. Staatsanwälte und Richter, Politiker und Beamte, Priester und Professoren, Journalisten und Künstler, Durchschnittsbürger, Präsident Putin und der Patriarch der orthodoxen Kirche, Kyrill, füttern tagtäglich die Maschinerie der Verblödung.
Einige der prominentesten und aggressivsten Fürsprecher des Regimes waren einmal Putin-Gegner. Das Ausmaß der Liebedienerei gegenüber dem Regime und der Indifferenz gegenüber allen seinen Opfern ist grenzenlos. Kritiker verstummen rasch im Tsunami der Lügen oder werden Opfer der Repression.
Die Propaganda bestimmt die Leitlinien des Patriotismus, der Verachtung für den Westen, der Putin-Verehrung, des imperialen Geschichtsverständnisses, des Hasses auf Gegner im In- und Ausland, des Heldentums und Opferns für die "gute Sache". Im Lauf der letzten Jahre verrohte die Sprache zusehends, wofür Putin selbst einschlägige Beispiele lieferte. Der Jargon der Gosse, sprachliche Aggression und Gewalt kennen keinerlei Hemmungen. Die Propaganda vermittelt die russische Leitkultur, unter die sich zu beugen jeder Einsichtige bemüht sein muss. Das gelingt erschreckend gut.
Der Brutalität der Sprache entspricht die reale Gewalt in Staat und Gesellschaft, die das dunkelste Kapitel des Buches beschreibt. Zwar existiere die ungebrochene Gewaltkontinuität seit 1917, aber Rastorgueva hebt das Ausmaß der physischen Gewalt in den Neunzigerjahren hervor, als in Russland Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kollabierten. Seitdem nisten Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Folter, Körperverletzung in den Institutionen des Staates, vom Kindergarten bis zu den Haftanstalten, und im Denken, Sprechen und Handeln der Menschen.
Mit ungeheurer Akribie sammelt Rastorgueva die Zeugnisse einer Scheinwelt mit realen Folgen für die Menschen, besonders aber für die nichtrussischen Minderheiten, die unter Putin nicht nur frühere Ansätze von Autonomie verloren haben, sondern durch die Rekrutierungspolitik auch die höchsten Verlustraten beim Versuch der Russifizierung der Ukraine aufweisen. Der zynische Rassismus des Putin-Regimes, der sich in dieser Tatsache ausdrückt, kann gar nicht genug betont werden.
Wer auch nur eine halbe Stunde russisches Fernsehen gesehen hat, der weiß, welcher Anstrengung es bedarf, die dort ausgebreitete Masse an Unwahrheit und Schmutz zu dokumentieren und darüber aufzuklären. Es entsteht der zutiefst deprimierende Eindruck eines hoffnungslos im Sumpf von Lüge und Gewalt lebenden Landes. Das Regime ist mittlerweile dermaßen darin verstrickt, dass ein Ausweg unvorstellbar scheint.
Außer dem Zusammenbruch. Die Bevölkerung wird sich jedoch des Regimes, das sie unterwirft, schikaniert und die Männer im Krieg verheizt, nicht entledigen, glaubt Rastorgueva. Dennoch flackert an dieser Stelle die Hoffnung auf Widerstand auf. Aber woher sollte der kommen? Das ganze Buch beschreibt, dass zu viele Menschen mitmachen. Die Opposition ist zersplittert, sofern sie noch lebt und nicht im Gefängnis sitzt, und die russische Emigration ist weit davon entfernt, einen Plan oder eine Organisation für ein anderes Russland zu haben.
Rastorgueva analysiert nicht, sie beschreibt einen Kontinent der Täuschung und Selbsttäuschung. Wer eine Wiederholung sowjetischer Zeiten zu erkennen glaubt, irrt. Damals konnte Alexander Solschenizyn seinen Landsleuten noch das berühmte "Lebt nicht mit der Lüge!" zurufen. Dazu musste er das Gegenteil der Lüge, die Wahrheit, kennen. Im heutigen Russland ist Wahrheit eine andere Lüge.
Das Nachwort von Thomas Martin kassiert leider die Wucht des Buches durch postmodernes Geplauder. Ein Lob jedoch der kongenialen redaktionellen Vorgehensweise, bei der Umschrift der zahlreichen russischen Begriffe Kraut und Rüben durcheinandergehen zu lassen. Man halte das nicht für einen Mangel an Sorgfalt, sondern für einen ästhetischen Kniff zum Zweck der Sinnzerstörung von ihrerseits sinnzerstörender Propaganda. Die Realität der russischen Worthülsen löst sich auf in der Absurdität der Transliteration. STEFAN PLAGGENBORG
Irina Rastorgueva: "Pop-Up-Propaganda". Epikrise der russischen Selbstvergiftung.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024.
337 S., Abb., geb.
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