Ein Roman über eine Wohngemeinschaft, in der vier Menschen unterschiedlichen Alters aus unterschiedlichen Motiven zusammenleben und feststellen: Freunde sind manchmal die bessere Familie.
Constanze zieht nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten in die Wohngemeinschaft von Jörg, Anke und Murat. Was zunächst als Übergangslösung gedacht war, entpuppt sich als zunehmend stabil. Da ist Jörg, dem die Wohnung gehört und der eine große Reise plant; Anke, die als mittelalte Schauspielerin kaum noch gebucht wird und plötzlich nicht mehr die einzige Frau in der WG ist; und Murat, der sich einfach keine Sorgen machen will und dessen Lebenslust auf die anderen mitreißend und manchmal auch enervierend wirkt. Constanze sorgt als Neuankömmling dafür, dass sich die bisherige Tektonik gehörig verschiebt. Alle vier haben ihre eigenen Träume und Sehnsüchte und müssen sich irgendwann der Frage stellen, ob sie eine reine Zweck-WG sind oder doch die Wahlfamilie.
In diesem virtuos komponierten, lebensklugen und humorvollen Roman kommen reihum vier grundverschiedene Menschen zu Wort, die jeweils auf ihre Weise ihre Lebensentwürfe neu justieren müssen.
Besprechung vom 12.10.2024
Die Seniorenspätzle sind angerichtet
Alten-WGs sind in der Literatur ein Thema: Isabel Bogdans neuer Roman macht daraus eine ausgekochte Demenz-Geschichte.
Von Sandra Kegel
Von Sandra Kegel
Die Bundesregierung hat einen Maßnahmenkatalog dazu erstellt, der Ethikrat besprach das Thema auf seiner Jahrestagung, und Hendrik Wüst nannte es "die neue soziale Frage unserer Zeit": Kaum ein anderes Gefühl wird so intensiv betrachtet wie die Einsamkeit. Von einer "stillen Epidemie" ist gar die Rede. Und selbst wenn Alleinsein und Einsamkeit zwei Paar Schuhe sind, so scheint jedenfalls die häufigste deutsche Wohnart, die Singlewohnung, das Gemeinschaftsgefühl nicht unbedingt zu fördern.
Einsamkeit als literarischer Topos hat Schriftsteller schon immer gereizt, von Marlen Haushofers grandioser Erzählung "Die Wand" bis zu Georges Perecs "Ein Mann der schläft". Neuerdings gesellen sich Romane hinzu, die von Strategien gegen die Isolation handeln, zumal bei älteren Menschen, die von Einsamkeit noch einmal mehr betroffen sind, wenn sie durch den Verlust des Partners oder den Auszug der Kinder plötzlich auf sich zurückgeworfen sind.
Im vorigen Jahr erst veröffentlichte Monika Maron ihre gallig-melancholische Erzählung "Das Haus" über eine Seniorengruppe, die sich in einem ländlichen Gutshof zusammentat, um dort den neuen Lebensabschnitt des Nicht-mehr-jung-aber-noch-nicht-gebrechlich gemeinsam zu erleben. Aus den Reibereien und unterschiedlichen Weltanschauungen, die hier auf engstem Raum aufeinanderprallten, spann die Autorin genüsslich ihren konfliktreichen Stoff.
In Isabel Bogdans neuem Roman "Wohnverwandtschaften" ist das Setting ähnlich, doch gibt es weit weniger Zoff. Schon der Titel verrät die Handlung: Auch hier leben Menschen, die nicht Anfang zwanzig, sondern jenseits der fünfzig sind, in einer WG zusammen, weil sie aus früheren Zusammenhängen gefallen sind oder noch einmal neu anfangen wollen. Der Witwer und pensionierte Zeitungsjournalist Jörg hat schon vor Jahren nach dem Tod seiner Frau Gabriele und dem Auszug seines Sohnes Sebastian die Hamburger Familienwohnung umfunktioniert. Bei ihm lebt inzwischen die Schauspielerin Anke von ihrem verblichenen Ruhm, der ihr indes leider die Miete nicht finanziert. Murat, ihr Zimmernachbar, wuchs als Gastarbeiterkind in Köln auf, verlor früh den Vater und hält sich am liebsten in seinem Garten auf, wenn er nicht gerade seine WG-Kollegen bekocht.
Der Roman beginnt mit dem Einzug der neuen Mitbewohnerin Constanze. Sie hat gerade ihren Freund verlassen, nachdem dieser ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Durch Zufall ist sie auf das Zimmer in Jörgs Wohnung aufmerksam geworden und zieht nun mitsamt ihrem weißen Klavier, auf dem sie gar nicht spielen kann, ein.
Erzählt wird der Roman aus der sich kapitelweise abwechselnden Perspektive der vier WG-Bewohner. Mal in der Ich-Perspektive, mal als Dialog geschrieben, führen die verschiedenen Stimmen zügig durch die Handlung, die sich zumeist in den vier Wänden und dort in den jeweils vier Köpfen abspielt. Jeder hier hat so seine Probleme. Murat vermisst Wärme und Zweisamkeit, Anke leidet unter ihrer Arbeitslosigkeit nicht nur, weil sie chronisch pleite ist, sondern mehr noch nagt an ihr, nicht mehr gebraucht zu werden. Und Constanze, die Zahnärztin, die sich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen hochgearbeitet hat, hadert mit ihrem Fluchtimpuls: Sobald es in ihrem Leben ernst wird, sei es mit dem Freund oder mit der Übernahme einer Praxis, fühlt sie sich bedrängt und nimmt Reißaus.
Das eigentliche Thema des Romans aber wird an Jörg verhandelt, dem ältesten WG-Mitglied. Denn der pensionierte Journalist, der sich eigentlich gerade auf eine Reise nach Georgien mit dem VW-Bulli vorbereitet, erkrankt im Laufe der Erzählung an Demenz. Erst fällt das nicht weiter auf, denn schusselig war Jörg schon immer. Und weil jeder in der Zweck-WG vor allem mit sich selbst befasst ist und sein Sohn Sebastian in Südfrankreich und also weit weg lebt, bleibt Jörgs Zustand lange Zeit unter dem Radar. Auch er selbst versteht sich darauf, alle Anzeichen souverän zu überspielen und wegzuleugnen, selbst als er nicht einmal mehr weiß, dass seine Frau gestorben ist. Schließlich klärt Constanze die Mitbewohner auf: Die Symptome erkennt sie nicht nur als Medizinerin, sondern vor allem als Neue in der WG, die mit den sozialen Routinen noch nicht so vertraut ist. Das Problem zu benennen ist für die Gruppe schlimm genug. Gelöst aber ist es damit noch lange nicht.
Mit den verschiedenen Perspektiven auf Jörg und seine Krankheit, die sich im Roman bis ins Schriftbild hinein manifestiert, wenn hinten hinaus immer mehr Buchstaben und Worte wegfallen, arbeitet der Roman. Filigran oder gar gewitzt geschrieben ist das nicht. Die Titel-Anspielung auf Goethes "Wahlverwandtschaften" findet leider keinerlei innere Entsprechung. Das ist schade, denn Isabel Bogdan ist eigentlich eine souveräne Erzählerin, deren Romane "Der Pfau" und "Laufen" zwischen Belletristik und Unterhaltung changieren und beide erfolgreich verfilmt wurden.
Die "Wohnverwandtschaften" aber bleiben literarisch unerheblich und erinnern von der Machart an ein Fernsehfilmskript. Die Protagonisten sind mitunter derart erwartbar und stereotyp geschildert, als wollte man sie erst einmal festlegen, ehe dann ein Schauspieler sie aufs Neue mit Leben füllt. Überrascht wird man hier nie. Die frustrierte Schauspielerin denkt Sätze wie: "Die Rollenbeschreibung ist eine Frau Anfang Fünfzig, das heißt, sie werden eine Anfang Vierzig nehmen, wie immer." Jörg fragt sich: "Wann hatte ich zuletzt eine Frau im Arm?" Und für den leidenschaftlichen Koch Murat schmeckt die WG nach gutem Spätzleteig: Jörg ist für ihn das Mehl, "die Trägermasse, ohne den gar nichts geht", Murat das Wasser, das den Teig geschmeidig hält, Anke das Ei, das die Klebrigkeit rausnimmt, und Constanze die Kräuterzugabe. Leider fehlt diesen Nudeln jedoch eine pikante oder scharfe Soße, die dem Gericht eine spezielle Note verleihen würde. So bleibt es leider einfallslose Tiefkühlkost.
Isabel Bogdan: "Wohnverwandtschaften". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
272 S., geb.
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