Der Ickabog kommt . . .
Ein sagenumwobenes Ungeheuer, ein Königreich in großer Gefahr und zwei Kinder, die außergewöhnlichen Mut beweisen müssen. In diesem ganz besonderen Märchen geht es um den Sieg von Hoffnung und Freundschaft gegen alle Widrigkeiten, erdacht von einer der besten Geschichtenerzählerinnen der Welt, J. K. Rowling.
Schlaraffien war einst das glücklichste Königreich der Welt. Es gab Gold zuhauf, einen König mit einem unglaublich schneidigen Schnurrbart und dazu Metzger, Bäcker und Käser, die mit den erlesenen Produkten ihrer Handwerkskunst Menschen vor Begeisterung zum Tanzen brachten, wenn sie davon aßen.
Alles war perfekt - wenn man einmal vom nebligen Marschland im Norden absieht, wo einer Legende nach der schreckliche Ickabog haust. Natürlich weiß jeder, dass der Ickabog nur ein Mythos ist, mit dem man kleinen Kindern Angst macht. Das Lustige an solchen Geschichten ist aber, dass sie manchmal ein eigenes Leben entwickeln.
Kann ein Mythos zur Absetzung eines beliebten Königs führen? Kann er ein Land an den Rand des Verderbens bringen? Und kann er zwei Kinder völlig unerwartet in ein gefährliches Abenteuer stürzen?
Wer mutig ist, kann diese Seiten aufschlagen, in die Geschichte eintreten und es selbst herausfinden . . .
Eine wunderschöne Hardcover-Ausgabe, ideal zum Vorlesen und Verschenken. Die prächtigen farbigen Illustrationen der jungen Gewinner*innen des Ickabog-Malwettbewerbs erwecken die Geschichte zum Leben.
Besprechung vom 18.11.2020
Edi Goldknopf gibt es nicht
Wie eine Lüge entsteht und wie man sie bekämpft: J. K. Rowlings neues Kinderbuch
Am Anfang stirbt die Mutter der siebenjährigen Lilli an Erschöpfung, bald darauf der Vater ihres gleichaltrigen Freundes Wim, getötet durch eine verirrte Kugel. Es folgt der heimtückische Mord an einem alten Ratgeber des Königs, und schließlich leidet fast das ganze Land, das noch immer den irreführenden Namen "Schlaraffien" trägt, am Hunger, der Alt und Jung dahinrafft. Auch die Kinder im Waisenhaus, denen man dort als Erstes den Namen nimmt und sie allesamt nur "Paul" respektive "Paula" nennt, sterben wie die Fliegen: "Die Winterkälte war auch im Waisenhaus von Mutter Grunz deutlich zu spüren. Kinder, die in Lumpen gekleidet sind und nur dünne Kohlsuppe zu essen bekommen, haben Husten und Erkältung viel weniger entgegenzusetzen als wohlgenährte Kinder. So kamen auf dem kleinen Friedhof hinter dem Waisenhaus stetig Pauls und Paulas hinzu, denen es an Nahrung, Wärme und Liebe gefehlt hatte."
Ihre Geschichte "Der Ickabog" habe sie ihren "beiden jüngeren Kindern vorgelesen, als sie noch sehr klein waren", schreibt J. K. Rowling, deren "Harry Potter"-Serie sich weltweit mehr als 500 Millionen Mal verkauft hat, im Vorwort zur Buchfassung, die jetzt bei Carlsen erschienen ist. Als Gutenachtgeschichte indes mag man sich das Gemetzel nur schwer vorstellen, das dort über knapp 350 Seiten geschildert wird. "Der Ickabog" setzt ein mit einem prosperierenden Königreich, in dem auf den ersten Blick alles in Ordnung ist und dessen charismatischer Herrscher, König Fred, nichts anderes als winken, lächeln, und gut aussehen muss, weil der Rest von allein läuft. Das ändert sich schleichend eben mit dem Tod der Näherin Lerchensporn, Lillis Mutter, für die eine dreitägige Schufterei am neuen Gewand des Königs zu viel war, mit dem harschen Vorwurf, den Lilli deswegen an den König richtet, und mit dessen Entschluss, sein Ansehen bei den Untertanen durch einen Feldzug Richtung Norden aufzupolieren. Dort, so heißt es, hause der legendäre Ickabog, ein riesiges Fabeltier mit scharfen Klauen - es fällt nicht schwer, hier an den 1999 erschienenen "Grüffelo" von Axel Scheffler und Julia Donaldson zu denken, und auch jenes Wesen ist irgendwo zwischen Behauptung und bewiesener Existenz angesiedelt, was jeweils von denen, die von ihm erzählen, für ihre Zwecke ausgenutzt wird, bis sie ihr blaues Wunder erleben.
Nur dass in Rowlings Geschichte der Ickabog auch Züge des Monsters Grendel aus dem altenglischen "Beowulf" trägt, also, wie es heißt, nachts plötzlich auftaucht und unter den Rittern, die ihm entgegengezogen sind, Verheerungen anzurichten droht. Tatsächlich meint der König, im nebligen Moor einem Ickabog begegnet zu sein. In der Folge fällt ein Schuss aus dem Gewehr eines Hofmanns und trifft einen Offizier, was dann dem unsichtbaren Monster in die Schuhe geschoben wird. Das ist die erste Lüge, der weitere folgen, so dass das Monster immer bedrohlicher und jeder, der es bekämpft, immer mehr zum Helden wird. Was ausgerechnet diejenigen, die etwas zu verbergen haben, nun ausnutzen.
Dass Rowling mit ihrem ersten Text für junge Leser nach Abschluss der Potter-Serie (nimmt man die diversen Spin-offs aus) tatsächlich auf junge Leser zielt, ergibt sich aus dem Stil des Textes, der manchmal einen Märchenton anschlägt, dann wieder den Leser direkt anspricht und Erklärungen einflicht, wie sie in der Tradition des Kinderbuchs keineswegs unüblich sind. Und auch, dass der Erzähler - anders als die Figuren - das tatsächliche Geschehen kennt und daher für die Leser zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann, gehört zu den Konventionen dieser Gattung.
Anders als im Märchen erhalten die Figuren eine auserzählte Psychologie, bei der nichts im Unklaren bleibt, und Rowling arbeitet mit sprechenden Namen, die Auskunft über den moralischen Stellenwert der Figuren geben - was ist von einem Diener namens "Eiterbeul" schon anderes zu erwarten als übelste Spitzeldienste aus Habgier -, so dass man jeder Stelle des Buchs abliest, dass es der Autorin darauf ankommt, mit ihrer Botschaft auch sicher verstanden zu werden.
Aber was ist das für eine Botschaft? Rowling geht es um die Frage, wie eine Lüge in die Welt kommt, wie sie unterstützt wird und von wem, und ob man sich tatsächlich gegen eine Version des gemeinsam Erlebten stemmen kann, wenn doch alle anderen davon profitieren, die Lüge eine Wahrheit zu nennen, weil sie davon profitieren. Vor allem fragt sie nach dem Preis, den diejenigen zahlen, die trotzdem auf dem beharren, was sie als Wahrheit ansehen. Wenn eine Person frei erfunden wurde, die im Kampf mit dem Ickabog umgekommen sein soll, und wenn jenem "Edi Goldknopf" ein Grab und gar eine Statue errichtet werden - soll man dann nicht den Dingen ihren Lauf lassen, da doch niemand durch diese Fiktion zu Schaden zu kommen scheint?
Nein, so steht es in Rowlings zornigem Buch, weil ein Gemeinwesen von Lügen, die alle glauben oder zu glauben haben, krank wird. Weil die Lüge in diesem Fall den schleichenden Aufstieg eines totalitären Regimes begünstigt und damit Verleumdung, Spitzelwesen, Hochverratsprozesse mit Selbstbezichtigungen, Einschüchterung, Erpressung, Willkür, Terror, Bereicherung einiger weniger und Verelendung der Übrigen. Darin, dass die Autorin mit teilweise grellen Zügen diese Verbindung zwischen Wahrheitsbeugung und Diktatur aufzeigt und den schleichenden Prozess vom einen zum anderen aufzeigt, liegt die Stärke dieses Buchs, dessen jetzige Gestalt vielleicht von den Erfahrungen beeinflusst worden ist, die Rowling in den vergangenen Monaten in den sozialen Medien machen musste - und als Folge davon auch in der realen Welt (F.A.Z. vom 30. September).
"Je öfter er die Geschichte erzählte, desto mehr war er von ihrer Wahrheit überzeugt", heißt es einmal über den König und seinen behaupteten Kampf mit dem Untier. Das klingt harmlos, ist es aber nicht, auch wenn das "Fred dem Furchtlosen" nur zum Teil anzulasten ist. Am Ende wandert alles, was an die Ickabog-Lüge erinnert, ins Museum, auch die Statue zu Ehren Edi Goldknopfs. In der Gewissheit, dass es der erste Schritt in eine Wiederholung des Desasters wäre, wenn man sich daran nicht mehr erinnern wollte.
TILMAN SPRECKELSEN
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