»Klug beobachtet, eisheiss geschlussfolgert. Jagoda Marinic beschreibt unsere Zeit, wie sie sein sollte. « Robert Habeck
Die letzten Jahre waren geprägt von einer Aufbruchstimmung und dem Selbstbewusstsein vieler Minderheiten, gesellschaftlichen Wandel vor allem durch laute Töne und harte Forderungen voranbringen zu können. Die einen sahen darin die große Chance, die Machtverhältnisse umzukehren, die anderen eine große Gefahr, eine Art »woke Wutpropaganda«, die das Bestehende zersetzen will.
Seit über zehn Jahren engagiert sich Jagoda Marinic für den Aufbau einer diverseren Gesellschaft. In Heidelberg hat sie das Interkulturelle Zentrum Heidelberg mit aufgebaut und das International Welcome Center mit konzipiert. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen macht sie nun Vorschläge, wie wir aus dieser Radikalität herauskommen. Wie geht Wandel vor Ort? Was bietet unsere Zeit an Möglichkeiten jenseits von Positionierungen auf Instagramkacheln, wie werden wir Menschen wieder zu handelenden Subjekten, statt uns in den Empörungsspiralen der sozialen Medien zu verlieren?
Ausgehend von Begriffen wie »Sehen«, »Identität«, »Streit«, mit denen wir über Gesellschaft sprechen und Prozesse beschreiben, erzählt sie, wie es möglich wurde, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen und Menschen für ihren Traum zu begeistern - mit sanfter Radikalität.
»Das Alleinstellungsmerkmal von Zukunft ist Anders, Veränderung, Neu. Darüber reden können schon nicht viele, es umsetzen noch weniger. Hier nun geht Jagoda Marinic auf ein Date mit Utopie und Realität, schaut mal amüsiert, mal verzweifelt dabei zu, wie Zukunft aus dem Ei schlüpft. « Florence Gaub
Besprechung vom 20.11.2024
Markt der Identitäten
Jagoda Marinic sucht nach einem neuen Wertekonsens
Den Verteidigern des Multikulturalismus schlug zuletzt auch in den eigenen Reihen ein harter Wind um die Ohren. Immer neue Stufen wurden in der Opferpyramide eingezogen, und wer heute noch meinte, als osteuropäischer Migrant eine besonders wertvolle Stimme auf dem Literaturmarkt zu sein, dem wurde morgen schon der Mund verboten, weil er auf der Skala der Hautfarbenpigmente zu weit unten stand. In all seiner Verdrehtheit zeigte sich dies bei der Gedenkveranstaltung zum Attentat von Hanau, wo Gruppen geschützte Räume ausschließlich für schwarze Menschen einrichten wollten, was am Ende dazu geführt hätte, dass die Angehörigen der Opfer vom Gedenken ausgeschlossen worden wären. Hier wurden ohne viel Überlegung amerikanische Debattenmuster auf zentralhessische Wirklichkeiten übertragen - und scheiterten daran.
Die in Waiblingen geborene kroatischstämmige Schriftstellerin und Publizistin Jagoda Marinic hat von derlei Verrücktheiten die Nase voll. Als Leiterin des interkulturellen Zentrums von Heidelberg, die sie bis vor einem Jahr war, stand Marinic im Auge des Sturms, wurde zugleich von Bürgern beschimpft, denen der Minderheitenfimmel auf die Nerven geht, und von Aktivisten, denen es schon zu viel war, wenn auf dem Podium einmal ältere Herren mit heller Hautfarbe vertreten waren.
Marinic, die auch ein gefragter Talkshowgast ist, will sich weiter auf dem Markt der Identitäten behaupten, ohne sich von den dort programmatischen Karambolagen egozentrischer Ansprüche die Psyche zerbeulen zu lassen. Davon handelt ihr neues Buch. Es gehört zu einer Sorte von Bekenntnis- und Besinnungsliteratur, die auf dem Buchmarkt gerade sehr gefragt ist. Man spürt den Kampf der schönen Seele um die Integrität ihres Innenlebens und hört zugleich den Ton der Kulturmanagerin heraus, die ihre Claims neu absteckt.
Am Anfang steht ein seltsamer Widerspruch. Marinic will raus aus den verhärteten Debatten um Herkunft und Hautfarben hin zum konkreten Handeln und zur sozialen Wirksamkeit, um darüber, genau, ein Debattenbuch zu schreiben. Über den Titel "Sanfte Radikalität" muss man sich nicht den Kopf zerbrechen. Das Buch ist nicht radikal, sondern moderat, es sucht nach einem Wertekonsens über den Identitäten, um gemeinsam etwas aufzubauen. Und es erzählt davon, wie es gelingt, im Sperrfeuer der Identitäten innere Sanftmut zu bewahren.
Oder versucht es zumindest: denn im Ganzen dominiert eine Mischung aus zivilgesellschaftlichen Sprechautomatismen und leerem Kulturmanagerton. Fortwährend sind Räume zu öffnen, Diskurse zu führen, Lerngelegenheiten zu bieten und - ganz unironisch - Lösungserzählungen anzubieten. Sprachklischees aus dem verwalteten Leben. Man spürt, wie viel Selbstentfremdung in solchen Büchern steckt. Und man bemerkt eine seltsame Leere, wo es um die Beschreibung des multikulturellen Lebens geht. Es gibt hier keine Türken, Afrikaner, Vietnamesen, keine Sitten, Lebensarten und Weltsichten, sondern nur Diskursräume und Lerngelegenheiten. Das ist schade, denn die schöne literarische Sprache der Autorin wird dadurch immer wieder durchbrochen, und kluge Überlegungen laufen ins Leere. Menschen sind hier Diskursteilnehmer, oder es gibt sie nicht.
Marinics Versuch, die Fronten der Identitätspolitik aufzubrechen und Migration zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, wird die Gegenseite wohl auch deshalb nicht erreichen, weil das Bild der Gesellschaft zu einseitig gezeichnet ist. Wer über die eigene Blase hinaus einen Konsens erreichen will, muss das ganze Spektrum der Migrationsrealität zeigen, vom Kulturkarneval bis zur Messerverbotszone, vor allem muss man rein in die sozialen Milieus. Am Ende ist das Buch auch ein Hilfeschrei. Es muss doch möglich sein, den Dialog der Kulturen zu führen, ohne einander dauernd den Kopf einschlagen zu wollen. Die Sprache dafür scheint aber noch nicht gefunden zu sein. THOMAS THIEL
Jagoda Marinic: "Sanfte Radikalität". Zwischen Hoffnung und Wandel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 160 S., geb.
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