»Was wie ein düsterer und rasanter Detektivroman beginnt, entwickelt sich zu etwas weitaus Unheimlicherem und Fesselnderem. « Peter Swanson
Als eine junge Frau tot aufgefunden wird, in einem feinen Cocktailkleid, auf dem Dach eines Rolls-Royce liegend, im gefährlichsten Viertel von San Francisco, gehen Polizei und Gerichtsmedizin von Selbstmord aus. Doch die Mutter der Toten, die megareiche Olivia Gravesend, glaubt ihnen kein Wort und beauftragt Privatdetektiv Lee Crowe mit den Ermittlungen. Bei seinen Recherchen kommt er einer Verschwörung auf die Spur, bei der die Beteiligten vor nichts zurückschrecken . . .
Besprechung vom 02.09.2024
Eingriffe in die Evolution muss man sich leisten können
California Dreamin': James Kestrels "Bis in alle Endlichkeit" führt in die Szene der Lebensverlängerer
Der amerikanische Anwalt und Schriftsteller Jonathan Moore hat das Pseudonym James Kestrel bislang nur für einen Roman verwendet - "Five Decembers", der letztes Jahr auf Deutsch unter dem Titel "Fünf Winter" (F.A.Z. vom 3. April 2023) erschien. Der Suhrkamp Verlag bleibt auch bei der nächsten Veröffentlichung beim Pseudonym, obwohl der 2019 im Original erschienene Roman "Blood Relations" unter Moores Klarnamen herauskam. Das hängt vermutlich mit dem Erfolg von "Fünf Winter" zusammen, an den "Bis in alle Endlichkeit" nun anknüpfen soll. Während "Fünf Winter" im Ostasien der Weltkriegsjahre angesiedelt war, spielt "Bis in alle Endlichkeit" im San Francisco der Gegenwart.
Dort ermittelt Leland "Lee" Crowe als Privatdetektiv, weil er nicht mehr Anwalt sein darf. Er hat einige Jahre vor Beginn der Handlung einen hohen kalifornischen Richter krankenhausreif geprügelt, weil er sich nicht damit abfinden konnte, dass der Typ der Liebhaber seiner nunmehr ehemaligen Frau war, die aus reichem Haus kommt. Eine Welt, die Crowe nicht so gern hat, was nicht heißt, er hege für Juliette keine Gefühle mehr. Wenn vorderhand auch alles, was ihm von ihr geblieben ist, ein Sehnen und ein Sportwagen sind.
Seit dem Verlust seiner Zulassung arbeitet er nicht mehr als Anwalt für Jim Gardner, sondern als Ermittler. Gardner ist so erfolgreich wie skrupellos, so brillant wie halbseiden. Gerade hat Crowe in einer schäbigen Absteige wochenlang das Mitglied eines Drogenkartells überwacht und manipuliert, nun stolpert Crowe in der frühen Morgenstunden über eine Leiche, deren Todesart an ein ikonisches Foto von Robert Wiles aus dem Jahr 1947 erinnert: Damals sprang eine junge Frau vom Empire State Building, landete auf dem Dach eines geparkten Autos, lag dort hingegossen wie friedlich schlafend, ohne Blutspuren und Entstellungen. Genau in dieser Position findet Crowe im Tenderloin, dem gefährlichsten Viertel der Stadt, auf dem Dach eines Rolls Royce eine tote junge Frau im Cocktailkleid, von der er noch nicht ahnt, dass sie sein Leben umkrempeln wird. Weder das Auto noch die Tote und ihre Todesart passen zur Umgebung.
Und doch: "Im Rückblick hätte es mich nicht überraschen dürfen, dass die Begegnung nicht das Ende war. Sobald man einen Menschen wie Claire Gravesend auch nur streift, bleiben Spuren zurück. Entweder setzt man die Dinge selbst in Bewegung, oder sie entwickeln ihr Eigenleben. Und wenn sie erst ins Rollen kommen, sind sie nicht mehr aufzuhalten. Ein ewiger Kreislauf, der sich stetig erneuert." Damit ist andeutungsweise das Thema des Romans umschrieben.
Crowe kann nicht widerstehen und macht ein Foto von der Toten, das er an die Boulevardpresse verkauft, ohne zu wissen, wen er abgelichtet hat. Bald tut sich noch eine Gelegenheit auf, mit ihr Geld zu verdienen. Jim Gardner empfiehlt ihn Claires Mutter Olivia Gravesend, einer einflussreichen Milliardärin, die nicht an die These der Polizei glaubt, es handele sich um einen Selbstmord.
Da bei der Autopsie von Claires Leichnam paarweise, kreisrunde Narben entlang der Wirbelsäule entdeckt werden, versucht Crowe herauszufinden, was es mit diesen auf sich hat. Er fliegt nach Boston, wo Claire studierte und ein Haus in Toplage besaß. Er spricht mit ihrer Hochschullehrerin, erfährt dass sich die Studentin für Stammzellforschung interessierte. Mit Erlaubnis der Mutter inspiziert er Claires Haus und wird dabei von einem Mann angegriffen. Der Angreifer überlebt den Zweikampf nicht. Dann stößt Crowe auf eine schlafende Frau - die exakt so aussieht wie Claire Gravesend. So viel darf verraten werden, denn der Klappentext tut es auch.
Kestrel startet lässig, so als würde ihm Raymond Chandler über die Schulter schauen und diese aufmunternd tätscheln. Der Ton stimmt, das Tempo, der Balanceakt zwischen Crowes mit illegalen Mitteln durchgeführten Recherchen und jener der Polizei, die zunächst ein paar Meter Rückstand hat. Crowe hat ein Spitzelsystem im Polizeiapparat aufgebaut: einen Putzmann, eine Gerichtsmedizinerin, einen Genetiker, die er fürstlich entlohnt.
Seine Handlanger sind top ausgestattet, methodisch und verlässlich. Digitale Überwachung und Spurensuche sind das eine, aber Kestrels jagt seinen Infanteristen in den permanenten Häuserkampf, um Humanhindernisse zu beseitigen. Crowe erweist sich als geübter, furchtloser Nahkämpfer, er prügelt und schießt sich seinen Weg durch Kalifornien auf der Suche nach den Hintermännern des Mordes frei. Das wirkt überzogen und ermüdend, ist aber für einen Teil der Thrillerkundschaft wohl eine unverzichtbare Zutat. Der Spielraum für Subtilitäten schrumpft in dieser Mischung aus Action- und Wissenschaftsthriller.
Wer ist die Frau im Bett von Claire, die aussieht wie Claire, wirklich? Crowe nimmt ihr ihre monströse Geschichte ab. Sie führt ihn am Ende in gesellschaftliche Kreise, die es sich leisten können, über ein, wenn nicht ewiges, so doch erheblich verlängertes Leben nachzudenken. Dass sie auf diesem Weg buchstäblich über Leichen gehen, macht James Kestrel überdeutlich. HANNES HINTERMEIER
James Kestrel: "Bis in alle Endlichkeit". Thriller.
Aus dem Amerikanischen von Stefan Lux. Herausgegeben von
Thomas Wörtche.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2024.
432 S., geb.
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