Besprechung vom 12.08.2020
Im Plantagensystem
James Walvins Geschichte des Zuckers
Der Durchschnittsverbraucher weiß nur in den seltensten Fällen, auf welch verschlungenen Wegen verarbeitete und auch frische Lebensmittel in den Supermarktregalen landen - weil die Wertschöpfungsketten häufig ungemein verwickelt sind und das Interesse an Transparenz bei den an ihnen Beteiligten meist recht gering ist. Ein unbestrittener Klassiker von Studien über Handelswaren ist "Die süße Macht" aus dem Jahr 1985 von Sidney W. Mintz, der Wirtschafts-, Global- und Kulturgeschichte beispielhaft vereint und zeigt, wie sehr die industrielle Revolution in Großbritannien vom Modell der karibischen Plantage geprägt war und wie Rohrzucker (neben Kartoffeln) buchstäblich die Energie für die Arbeitskraft der Industriearbeiter zur Verfügung stellte.
James Walvin, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität im britischen York, steht mit seiner Darstellung offensichtlich auf den Schultern von Mintz. Er zielt aber auf ein breiteres Publikum und betrachtet neuere Entwicklungen in der Nahrungsmittelindustrie. Walvin beginnt sein Buch mit einer prägnanten Geschichte des Zuckers. Süße wurde während des größten Teils der Menschheitsgeschichte aus Obst gewonnen oder mit Honig erzielt. Zuckerrohr wurde ursprünglich in Neuguinea domestiziert, nach Europa kam Zucker dann aber vor allem aus Indien und wurde ab dem zehnten Jahrhundert im Mittelmeerraum angebaut.
Bis ins siebzehnte Jahrhundert blieb Rohrzucker eine Luxusware, die sich nur sehr wenige leisten konnten. Die Etablierung des Plantagensystems in der Karibik, das nahezu ausschließlich auf der Arbeitskraft afrikanischer Sklaven aufbaute, machte Zucker schließlich zu einem Massenprodukt und erlaubte Händlern in Bristol, Bordeaux oder Boston das Anhäufen enormer Vermögen. Walvin nimmt ein zentrales Thema von Sidney Mintz auf, wenn er zeigt, dass das Plantagensystem an vorderster Front in der Entwicklung des kapitalistischen Produktionssystems in Großbritannien stand. Die großen Anbauflächen benötigten neue Methoden des Managements, der Arbeitsorganisation und der Finanzierung, die sich als maßgeblich für diese Entwicklung erwiesen.
Das schrittweise Ende der Sklaverei in der britischen und französischen Karibik im neunzehnten Jahrhundert machte zunächst die Sklaverei auf Kuba noch profitabler - dort wurde die Sklaverei erst 1886 abgeschafft -, und in Guyana, Fidschi oder Mauritius schufteten chinesische oder indische Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen auf den Plantagen. An der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erlaubten Fortschritte in der Pflanzenzucht, in Europa vermehrt Rohr- durch Rübenzucker zu ersetzen. Heute ist Maissirup eine der wichtigsten Zuckerquellen für verarbeitete Lebensmittel - und möglicherweise eine der Hauptursachen für Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Dies führt zum zweiten Thema von Walvins Buch, nämlich den Ursachen und Folgen des übermäßigen Zuckerkonsums samt den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für diese Entwicklung. Hier ist jedoch wenig Neues zu finden. Die Folgen übermäßigen Zuckerkonsums sind Thema zahlreicher Bücher, und bei den Ursachen bleibt Walvin zu sehr an der Oberfläche. Sarah Milov hat für die Zigarette gezeigt, wie das Zusammenspiel der Interessen von Landwirten, Herstellern und staatlichen Behörden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dem Tabakanbau und der Zigarettenherstellung, trotz moralischer und gesundheitlicher Bedenken gegen das Produkt, eine außergewöhnlich geschützte Stellung verschaffte (F.A.Z. vom 10. Januar). Eine zumindest ansatzweise ähnliche Herangehensweise wäre auch hier wünschenswert gewesen. Walvin bietet aber nichtsdestotrotz einen gut lesbaren Einstieg - im Gegensatz zur dichteren und fordernderen Darstellung von Mintz - in die mit Millionen von Opfern gepflasterte Geschichte des Zuckers.
THOMAS WEBER
James Walvin: "Zucker". Eine Geschichte über Macht und Versuchung.
Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher und Claus Varrelmann. Oekom Verlag, München 2020. 336 S., geb.
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