Besprechung vom 07.08.2024
Abhängig von der Gier der Schleuser
Javier Zamora beschreibt, wie er sich als neunjähriger Junge allein von El Salvador in die Vereinigten Staaten durchgeschlagen hat
Kriege, Konflikte und Gewaltausbrüche jeder Art, Machtgier und die Unfähigkeit oder die bewusste Weigerung Regierender, wenigstens halbwegs würdige Lebensbedingungen für ihre Landsleute zu schaffen, treiben immer wieder Menschen aus ihren Ländern in vermeintlich bessere Gefilde. Die Bilder von den Migrantenströmen zeigen schier endlose Menschenschlangen, überfüllte Boote und Flüchtlinge in Lagern, die Gefängnissen gleichen. Doch welche Beweggründe jeden Einzelnen dazu gebracht haben, aus der Heimat ins Ungewisse aufzubrechen und Gefährdungen bis zur Todesgefahr in Kauf zu nehmen, lässt sich nur erahnen.
Es fehlt nicht an Literatur über Flucht und Vertreibung aus Vergangenheit und Gegenwart. Aus diesen Titeln ragt die spannende fast fünfhundert Seiten lange Schilderung der Flucht eines neunjährigen Jungen heraus, der auf abenteuerliche Weise von El Salvador über Guatemala und Mexiko in die Vereinigten Staaten gelangt. Dabei werden nicht nur die Mechanismen deutlich, wie Schleuser mit ihren Methoden die Flucht steuern, es zeigt sich auch, in welch großem Maß Zufälle, glückliche Umstände und vor allem der Durchhaltewillen der Flüchtenden zum Gelingen beitragen.
Der aus El Salvador stammende und in den Vereinigten Staaten lebende Autor Javier Zamora hat seine eigenen im Kindesalter erlebten Fluchterfahrungen unter dem lapidaren spanischen Titel "Solito" (Allein) aufgeschrieben. Die deutsche Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann trägt den Untertitel "Eine wahre Geschichte", im englischsprachigen Original ist es lediglich "Eine Erinnerung" (A Memoir). Selbst wenn manche Episoden sich nicht ganz so zugetragen haben sollten, wie sie Zamora mit therapeutischer Unterstützung aus seinem Gedächtnis hervorgeholt hat, sind doch die präzise Art der Schilderung und die unglaubliche Detailgenauigkeit verblüffend.
Die Eltern des Buben waren vor den Gräueln des Bürgerkriegs in El Salvador nach Nordamerika geflohen. Javier, der bei seinen Großeltern aufwächst, macht sich an einem Apriltag 1999 auf den Weg, um wieder mit Vater und Mutter zusammen zu sein. Sein Opa präpariert ihn für die Flucht über Guatemala und Mexiko ins gelobte Land Amerika, begleitet ihn auch eine Weile, doch dann muss der junge Flüchtling auf sich allein gestellt weiterreisen. Ihn erwarten sieben Wochen voller Ängste, Schmerzen, Hunger und Erschöpfung. Er schleppt sich durch hitzeversengte Wüstenlandschaften, wird aufgegriffen, erlebt eine schier unaufhörliche Folge von Bedrohungen, Erniedrigungen und Momenten des Scheiterns. Und trotzdem keimt immer wieder Hoffnung auf.
Zamora schildert seine Fluchterlebnisse als Neunjähriger in der Ichform, im letzten Kapitel wechselt er die Erzählperspektive und beschreibt das Wiedersehen mit seinen Eltern aus der Sicht des in den Vereinigten Staaten heimisch gewordenen Autors, der seine traumatischen Erfahrungen zunächst im Gedichtband "Unaccompanied" (Unbegleitet) verarbeitet hatte. Mit der erschreckend eindrücklichen, doch nie larmoyanten Beschreibung scheinbarer Banalitäten, der prekären Versorgung mit Lebensmitteln oder der zwanghaften Unterdrückung der Notdurft auf stundenlangen Bus- oder Bootsfahrten zeigt Zamora, wie allein schon triviale Umstände eine Flucht zur Qual werden lassen.
Der kleine Javier wird von Schleuser zu Schleuser weitergereicht, es sind zumeist namenlose "Kojoten" oder "Polleros", die ihren Job freilich nicht um Gotteslohn verrichten, sondern ordentlich Geld für ihre Dienste eintreiben. Immerhin bildet sich auf der Flucht, der sich immer neue Fremde hinzugesellen, so etwas wie eine Familie um Javier. Er gibt sich (was ihm von seinem Großvater eingebläut wurde) als Mexikaner aus, nimmt eine falsche Identität an, bemüht sich, nach der Durchquerung Guatemalas mit mexikanischem Akzent zu sprechen, um nicht als Salvadorianer erkannt und abgeschoben zu werden.
Seine Fluchtgeschichte erzählt Zamora streng chronologisch, Wegmarken sind Datums- und Ortsangaben. Er versteht es, den Spannungsbogen immer wieder neu anzuziehen. Für Leser der deutschen Übersetzung, die nicht wenigstens Grundkenntnisse des Spanischen haben, ist die Lektüre bisweilen mühsam, weil unzählige spanische Wörter und Wendungen unübersetzt bleiben. Sie werden zwar in einem mehr als sechzehn Seiten umfassenden Glossar erläutert, aber es ist einfach lästig, dort ständig nachschlagen zu müssen. Dem Lesefluss wäre es dienlicher und es wäre kein Verlust an Authentizität gewesen, wenn auch diese spanischen Einsprengsel verdeutscht worden wären.
Die gewaltige Fluchterzählung Zamoras regt zu vielerlei Gedankenspielen an, etwa zu der heiklen Frage, wie verwerflich die Umtriebe der Schleuser sind. So brutal und kaltblütig sie ihrem Menschenhandelsgeschäft nachgehen - ohne sie wäre der neunjährige Javier kaum durchgekommen. Vor allem aber wird deutlich, dass es sich bei den Flüchtlingsströmen vor den Toren der Vereinigten Staaten keineswegs um eine "Invasion von Verbrechern" handelt, die aus Gefängnissen und "Irrenhäusern" kommen, wie der Migrantenhasser Trump behauptet, der sich gar zu der Behauptung verstiegen hat, diese wären "Tiere". Es sind ganz schlicht Menschen, die der Gewalt und unwürdigen Lebensumständen in ihrer Heimat entfliehen und sich andernorts eine friedvolle, gedeihliche Existenz aufbauen wollen. Aus dem armseligen Flüchtlingsjungen Javier ist ein gefragter Autor in den Vereinigten Staaten geworden. JOSEF OEHRLEIN
Javier Zamora: "Solito". Eine wahre Geschichte.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 496 S., geb.
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