Besprechung vom 24.11.2018
Sich nicht an der Handschrift erkennen
Jenny Erpenbeck gilt als Chronistin deutsch-deutscher Verhältnisse und als Spezialistin für Verluste aller Art: Jetzt liegen kleine Prosa und Reden gesammelt vor.
Von Daniela Strigl
Dass die Autorin nicht mit offenen Karten spiele, kann man nicht sagen: "Kein Roman" ist kein Roman. Der gleichwohl umfangreiche Band vereinigt "Texte und Reden" Jenny Erpenbecks aus den vergangenen fünfundzwanzig Jahren, von der Berliner Kindheitsskizze "Wo die Welt zu Ende ist", nämlich an der Mauer, bis zur "Keynote" zum "Puterbaugh Fellowship" 2018, in der die Vortragende an der Universität Oklahoma unter dem Titel "Im toten Winkel" mit zwingender Klarsicht daran erinnert, dass das, was "aus der Perspektive Europas oder Nordamerikas wie ein blinder Fleck aussehen mag", in Wahrheit "eine ganze Welt" ist: "Sie und ich wollen keine Sklaven sein, aber die Sklaven wollen, das ist ganz natürlich, auch keine Sklaven sein." Nicht nur mit ihrem Roman "Gehen, ging, gegangen" (2015) hat Erpenbeck in der Flüchtlingsdebatte eindeutig Position bezogen.
Die Reden- und Aufsatzsammlung ist bekanntlich eine schwierige Gattung, ein naturgemäß heterogenes Gebilde, in dem einzelne Perlen, zur Kette gereiht, nur allzu leicht ihren Glanz verlieren. Hier sind die Texte nach sechs Themenkreisen geordnet: Leben, Wege, Schreiben und Literatur, Musik, Bilder, Gesellschaft. Im Falle einer ebenso vielgepriesenen wie mit vielen Preisen bedachten Schriftstellerin ist es das Genre der Dankesrede, das ausgiebig zu seinem Recht kommt und bisweilen auch strapaziert wird: Solothurner Literaturpreis, Heimito-von Doderer-Literaturpreis, Hertha-König-Literaturpreis, Schubart-Literaturpreis, Joseph-Breitbach-Preis, Thomas-Valentin-Literaturpreis, Hans-Fallada-Preis, Thomas-Mann-Preis, Walter-Hasenclever-Literaturpreis, Premio Strega Europeo - wie lässt sich da noch anmutig und originell danken?
Als problematisch erweist sich nicht nur das Pflichtschuldige der Dankesrede, die obligate Verbeugung vor dem Namenspatron des Preises, sondern auch die fortgesetzte Attitüde der Ehrenempfängerin. Selbst die bescheidenste Person klingt eingebildet, wenn sie, und sei es noch so sachlich, eigene Verdienste auflistet. Oder wie Jenny Erpenbeck im Vorwort resümiert: "Ich bekomme einen Preis, und noch einen, und noch einen."
Nichtsdestoweniger finden sich kluge Beobachtungen zur Literatur, zum Beispiel zu Heimito von Doderers Roman "Strudlhofstiege" als dem Versuch, "alles Seiende einzuschließen, und zwar unsortiert von jeglicher Moral. Ganz entschieden steht Doderer auf niemandes Seite, so als handle es sich bei allem, was er notiert, um ein Protokoll, um eine Befragung vom Ende aus gesehen." Vom Ende aus gesehen, vom Tod der Mutter, wird manches in diesem Band: etwa in einer tragikomischen Miniatur über die pietätvolle Entsorgung eines Schnellkochtopfs aus dem mütterlichen Nachlass oder im beklemmend minutiösen Bericht über die "Offene Buchführung" der Hinterlassenschaft nach dem Tod eines nahen Angehörigen. "Ich melde das Abonnement der Tageszeitung, die meine Mutter immer beim Nachmittagstee gelesen hat, ab und erhalte eine Bestätigung für den zurückgebuchten Betrag in Höhe von 202,07 [Euro]. Die Bezeichnung für die Rückbuchung ist: Abgang."
Nicht alle Texte der Sammlung scheinen dafür geeignet: Was die studierte Opernregisseurin über Wagners "Götterdämmerung" und Siegfrieds "Gedächtnisverlust" zu sagen hat, ist interessant, aber in der Ausführlichkeit einer Studienarbeit doch etwas zu speziell. Aus Erpenbecks Bamberger Poetik-Vorlesungen wiederum kann man Näheres über Entstehung und Komposition ihrer "Geschichte vom alten Kind" erfahren, richtig zu schätzen wissen werden diese Aufschlüsse wohl nur Erpenbeck-Fans - tatsächlich, das steht anderswo, hat die Autorin als junge Frau in einer Schulklasse einige Wochen ausprobiert, wie das ist, gleichsam in der eigenen Vergangenheit zu hospitieren.
Man erfährt in den Vorlesungen aber auch, dass der DDR-Alltag nach der Wende "plötzlich kein Alltag mehr" war, "sondern ein Museum, oder ein Abenteuer, das man erzählt, unsere Sitten eine Attraktion". Und dass die Unmöglichkeit, solche Erfahrungen in Worte zu fassen, für Erpenbeck am Anfang des Schreibens stand.
Als Chronistin deutsch-deutscher Verhältnisse und Spezialistin für Verluste aller Art nimmt die Autorin sich mit Akribie der Sprache an. Zu den Kleinodien von "Kein Roman" gehört zweifellos "Im Jenseits der Altstoffe", ein Nekrolog auf dahingeschiedene DDR-Wörter (Erpenbeck spricht von "Worten"), wie "Abschnittsbevollmächtigter", "Gruppenrat", "Reisekader", die sich unter dem ethnographischen Blick der postumen Betrachtung verwandeln: "Zu den Worten hat die Selbstverständlichkeit des Lebens gehört, und diese Selbstverständlichkeit muss ich jetzt subtrahieren. Dann bleibt die Lächerlichkeit von ihnen übrig, die Lächerlichkeit von etwas, das unterlegen ist, die damals jedoch nicht zu ihnen gehört hat."
An anderer Stelle bekennt Jenny Erpenbeck, wichtige Texte stets mit der Schreibmaschine zu schreiben, um so etwas wie Neutralität herzustellen und sich "nicht selbst an der Handschrift" zu erkennen. Weil man, um zu schreiben, schamlos sein müsse, und das sei man eher, wenn man sich als jemand anderen wahrnehme. Solche im besten Sinne schamlosen Texte gibt es in diesem Buch nicht viele: Für die Erpenbeck-Gemeinde ist es als biographische und poetologische Fundgrube ein Muss, dem Neuling wird man doch eher die Lektüre eines Romans empfehlen, "Heimsuchung" (2008) zum Beispiel oder "Aller Tage Abend" (2012).
Jenny Erpenbeck: "Kein Roman". Texte und Reden 1992 bis 2018.
Penguin Verlag, München 2018. 431 S., Abb., geb.
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