Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von Die Zeit, Deutschlandfunk und ZDF: "Jens Bisky stellt die Frage nach Handlungsoptionen auf dem Weg in den Faschismus. Ein Panorama deutscher Schicksalsjahre, mit erschreckenden Parallelen zur Gegenwart."
Als im Oktober 1929 Gustav Stresemann, der erfolgreiche Außenminister, starb, fragten sich die Zeitgenossen, wie es nun mit der Republik weitergehen könne. Gerade formierte sich eine faschistische Koalition, die 1933 an die Macht kam; Bauern warfen Bomben, die öffentlichen Haushalte litten unter wachsenden Defiziten, bald schien das parlamentarische System gelähmt. Demokratische Republik oder faschistischer Staat - so lautete ab dem Sommer 1930 die Alternative.
Was folgte - der Aufstieg radikaler Kräfte, die Pulverisierung der bürgerlichen Milieus, der Aufruhr der Mittelschichten, die Selbstüberschätzung der Konservativen und Nationalisten, die sich einbildeten, Hitler zähmen zu können, Verelendung und Bürgerkriegsfurcht -, mündete in die verbrecherischste Diktatur des 20. Jahrhunderts. Jens Bisky erzählt, wie die Weimarer Republik in einem Wirbel aus Not und Erbitterung zerstört wurde. Es kommen Politiker und Journalisten der Zeit zu Wort, erschöpfte Sozialdemokraten, ratlose Liberale, nationalistische Desperados, Literaten, Juristen, Offiziere. Wie nahmen sie die Situation wahr? Welche Möglichkeiten hatten sie? - Das große Panorama einer extremen Zeit, die noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.
Besprechung vom 12.10.2024
Ein Trauerspiel aus längst noch nicht vergangenen Tagen
Der Weg zu Hitler war ein Konkurrenzkampf zwischen Reaktionären: Jens Bisky schildert den Untergang der Weimarer Republik.
Von Andreas Kilb
Von Andreas Kilb
Über die Weimarer Republik und ihr bitteres Ende hat es in den vergangenen zwanzig Jahren keine wesentlichen Erkenntnisse gegeben, die über die klassischen Studien von Karl Dietrich Bracher, Hagen Schulze und Heinrich August Winkler hinausgehen. Dennoch erscheinen jetzt vermehrt aktuelle Publikationen zum Thema. Der Grund liegt auf der Hand: Die zweite deutsche Demokratie, 1949 begründet und 1990 auf Ostdeutschland erweitert, zeigt vielerlei Krisensymptome, der historische Vergleich mit Weimar drängt sich auf. Zugleich bringt der Blick von heute auf das Geschehen der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre immer neue Facetten zum Vorschein, zumal solche, die auf die Ursachen des Untergangs hindeuten. Unter dem Lichtstrahl der Gegenwart leuchtet die Vergangenheit auf eine Weise auf, die vor dreißig oder vierzig Jahren schwerlich denkbar gewesen wäre.
Nach dem Historiker Volker Ullrich hat jetzt auch Jens Bisky ein Buch über die "kleine dicke Republik" (Tucholsky) vorgelegt. Anders als Ullrich, der die "Schicksalsstunden" Weimars von der Gründung bis zur Kanzlerschaft Hitlers beschreibt (F.A.Z. vom 15. August), beschränkt sich Bisky auf die Krisenjahre seit 1929, deren Ereignislinien er bis zur Gleichschaltung Deutschlands im Frühling und Sommer 1933 und zum "Röhm-Putsch" im Juni des folgenden Jahres nachzeichnet. Das Handicap einer solchen konzentrierten Darstellung ist ihre geringere zeitgeschichtliche Tiefe: Wenn Bisky etwa die von Martin Niemöller erzählte Anekdote zitiert, die kommunistischen Häftlinge im Konzentrationslager Oranienburg seien bei der Ankündigung ihrer Bewacher, am nächsten Tag werde der Sohn Friedrich Eberts eingeliefert, in "laute Bravo-Rufe" ausgebrochen, dann klingen darin nicht die Gewaltexzesse vom Januar 1919 mit, als die Truppen der Ebert-Regierung den von der KPD angeführten Berliner Spartakusaufstand zusammenschossen.
Andererseits lässt der zeitlich reduzierte Ansatz mehr Raum für kultur- und sozialgeschichtliche Betrachtungen, und von diesem Vorteil macht Bisky reichlich Gebrauch. Die politischen Ereignisse handelt er nicht breiter ab als Ullrich, dafür blickt er gründlicher ins Schrifttum der Zeit. Das beginnt, nach einem Prolog über den Tod Gustav Stresemanns im Oktober 1929 und einem Rückblick auf die Bauernproteste im vorangegangenen August, mit dem Blick in zwei Zeitromane von Hans Fallada ("Bauern, Bonzen und Bomben") und Ernst von Salomon ("Die Stadt") und der Lektüre eines Essays von Ernst Jünger, der die literarischen Schilderungen Falladas und von Salomons scharf stellt, indem er "die Kinder von Kriegen und Bürgerkriegen" dazu aufruft, die Welt der Väter und Großväter zu beseitigen.
Die Wochenzeitschrift "Das Tagebuch", die Jüngers Text als Gastbeitrag druckte, kommt bei Bisky mehrfach vor, auch deshalb, weil sie eine Art liberale Gegenstimme zu Carl von Ossietzkys "Weltbühne" darstellte, dem Zentralorgan der linken Intellektuellen in der Republik. Ein anderes Organ des damaligen Zeitgeists war Hans Zehrers Zeitschrift "Die Tat", in der die antirepublikanische Rechte zu Wort kam. Hier wurde, zumal aus der Feder des Herausgebers, das Ende der bürgerlichen "Religion von 1789" und die Geburt einer "neuen totalen Volksgemeinschaft" beschworen, in der "die beiden Pole, national und sozial, zur Ruhe" kommen würden. In den Generalsbüros des Reichswehrministeriums fand die "Tat" fleißige Leser.
Dass Zehrer nicht die kommende braune Diktatur Hitlers meinte, wenn er "das Schwert und die Faust" gegen "das System" ins Feld führte, wird bei Bisky ebenso klar wie die zunehmende Bereitschaft derjenigen, die seine Tiraden lasen oder mit ihrem Verbalradikalismus sympathisierten, zum Pakt mit den Nationalsozialisten. Der Wille zur Abwicklung der Republik war bei der nationalkonservativen Rechten zur Jahreswende 1929/30, als Hugenbergs Deutschnationale Volkspartei und die nach Stresemanns Tod abgedriftete liberale DVP den Sturz der Koalitionsregierung des Sozialdemokraten Hermann Müller planten, noch nicht sonderlich ausgeprägt. Doch mit der folgenden Kanzlerschaft des Zentrumspolitikers Brüning, der über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfügte und deshalb nur mithilfe von Notverordnungen des Reichspräsidenten regieren konnte, führten die Rechtsparteien mutwillig die Havarie des ihnen verhassten "Systems" herbei.
Dass es Brüning mit seiner von der SPD missmutig tolerierten Deflationspolitik nicht gelang, die verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise für das verschuldete und innerlich zerrissene Deutschland abzumildern, trieb Millionen Wähler ins Lager der Rechts- und Linksextremisten und sorgte bei den Reichstagswahlen von 1932 für eine negative Mehrheit von Kommunisten und Nationalsozialisten. Aber erst die Entschlossenheit des Reichspräsidenten und seiner politischen Paladine, nicht gegen, sondern mit den Nazis zu regieren, brachte Hitler an die Macht.
Dieser Mann, Paul von Hindenburg, ist der schwarze Ritter von Biskys Buch. Anders als Volker Ullrich, der die Entscheidungsspielräume Hindenburgs bis kurz vor der Walpurgisnacht des Dritten Reiches betont, sieht Bisky im Handeln des Reichspräsidenten eine konsistente republikfeindliche Strategie zur Herbeiführung der Diktatur. Die Regierung der geeinten Rechten, die Hindenburg wollte, nachdem Brünings Politik der Entbehrungen versagt hatte, war ohne Hitler nicht zu haben, und dieser war nur zu einer Regierung unter seiner Führung bereit. Wenn man die Ereignisse von 1932/33 als "Kampf zwischen konkurrierenden Reaktionären" lese, so Bisky, löse sich "manches Rätsel". Das gilt für Hindenburgs Taktieren zwischen Papen und Schleicher, den Nachfolgern Brünings, ebenso wie für Franz von Papens läppische Hoffnung, man werde Hitler in dem von ihm geführten, mehrheitlich mit Nichtnationalsozialisten besetzten Kabinett "an die Wand drücken, bis er quietscht". Wer stattdessen quietschte, waren Papen, Hugenberg und Konsorten, unter ihnen auch Hans Zehrer.
Jens Bisky malt die Höllenfahrt der angeschlagenen Republik in grellen, aber nie aufgesetzt wirkenden Farben. Den Kult der Gewalt, der von den Schreibstuben und Stammtischen auf die Straße übersprang, findet er bei Brechts Seeräuber-Jenny ebenso wie in Ernst Jüngers Kampfschrift "Der Arbeiter", die Seelenlage einer politisch unbehausten, von den Verheißungen der Moderne zugleich begeisterten und enttäuschten Jugend entdeckt er im Lebenslauf des Nazi-Märtyrers Horst Wessel ebenso wie in einem Brief des späteren Widerstandskämpfers Harro Schulze-Boysen an seinen Großonkel, den einstigen Großadmiral Alfred von Tirpitz. Und aus dem Mussolini-Porträt des Bestseller-Autors Emil Ludwig liest er die Vorzeichen des künftigen Grauens heraus. Politische Verbrechen, erklärt Mussolini seinem Interviewer "mit vollkommener Ruhe", kämen auch in Demokratien vor. Man meint den Sound der AfD zu hören.
Dabei belegt Bisky seine historischen Analysen immer wieder mit Zitaten von Zeitzeugen, auch solchen, die in Büchern über Weimar eher selten auftreten. Eine Republik, in der "die große und starke Rechte eigentlich den Faschismus will, aber Angst hat, ihn zu machen, und die große Linke eigentlich den Sozialismus will, aber in ihrer Mehrheit vorläufig nur die Demokratie, in der nur eine kleine Minderheit wirklich und endgültig die Demokratie will", das war die Lage, die Walter Dirks im Herbst 1931 am Vorabend der braunen Wahlsiege beschrieb. Später wurde Dirks einer der führenden katholischen Intellektuellen der Bonner Republik.
Von alldem ist das wiedervereinigte Deutschland weit entfernt, auch wenn die möglichen Protagonisten einer "Politik des Abenteuers" (Bisky) am rechten Rand bereitstehen. Dass der Vergleich heutiger Verhältnisse mit denen von Weimar "frivol" sei, "wenn es nicht konkret wird", wie Bisky in seinem Schlusswort erklärt, muss man dennoch nicht unterschreiben. Frivol oder vielmehr fahrlässig wäre es, die strategische Hilflosigkeit der Sozialdemokratie, die ab 1930 zutage trat, nicht wenigstens versuchsweise auf die aktuelle Lage der Volksparteien zwischen finanz- und weltpolitischen Zwängen und populistischen Herausforderungen zu projizieren. Und wenn Bisky Ernst Bloch mit dem Satz zitiert, "Hitlerismus" sei "die Ekstase bürgerlicher Jugend", darf man durchaus an die Party-Rassisten von Sylt denken.
Das Drama von Weimar, das zeigt Jens Biskys Buch, ist kein Schauerstück aus längst vergangenen Tagen. Seine Kostüme und Kulissen liegen gebrauchsfertig zur Aktualisierung bereit, und es braucht nur das richtige Drehbuch und eine antidemokratisch motivierte Besetzung, um es wieder aufzuführen.
Jens Bisky: "Die Entscheidung".
Deutschland 1929 bis 1934.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024. 640 S., geb., Abb.,
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