Besprechung vom 02.07.2019
Schmerzmittel vom Arbeitgeber
Aus der Traum: Jessica Bruder hat mit amerikanischen Arbeitsnomaden gelebt und weiß jetzt, woher die Wut der Abgehängten kommt.
Immer noch, knapp drei Jahre nach Donald Trumps Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, reiben sich liberale europäische Beobachter weiterhin verwundert die Augen darüber, wie es dazu hat kommen können. Dabei hätte man es wissen und verstehen können, spätestens seit der großen Finanzkrise der Jahre seit 2008, die nicht allein in Nordamerika, sondern auch in Westeuropa das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Politik und Wirtschaft nachhaltig erschütterte.
Jessica Bruders im Reportagestil flüssig geschriebenes Buch über die Arbeitsnomaden in den Vereinigten Staaten bietet, obwohl sie Trumps Namen nie erwähnt und überdies im Grunde keine politische Analyse leisten will, eine Erklärung an für die prekäre, instabile und fluide Situation der Mittelklassen. Das Land, das wie kein anderes mit religiös anmutender Inbrunst den Individualismus und die Freiheit als Höchstwerte und Grundvoraussetzungen sozialen Aufstiegs preist, hat ausgerechnet seine anhänglichsten Gläubigen im Stich gelassen, ebenjene Angehörigen der weißen Mittelkassen, die über Jahrzehnte glaubten, Fleiß, Anstand, Anpassung an Normen, Konventionalität und Aufstiegswille garantierten einen Lebensabend in geordneten Verhältnissen.
Nun, da viele von ihnen im siebten Lebensjahrzehnt stehen, sehen sie sich verraten und verkauft. Die Versprechen von New Deal und Great Society der dreißiger bis sechziger Jahre wurden nicht eingehalten, ebenso wenig die anschließenden neoliberalen Verheißungen der Befreiung von Regeln und Regulationen. Ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung verdient heute einundachtzigmal mehr als die unteren fünfzig Prozent, deren Einkommen seit den siebziger Jahren nicht nennenswert gestiegen sind, unabhängig von Arbeitsleistung und Produktivität.
Angesichts solcher Zahlen ist die simple wirtschaftswissenschaftliche Feststellung, Ungleichheit sei eine notwendige Bedingung für das Funktionieren der Märkte, bloßer Zynismus. Es geht gar nicht um Gleichheit, sondern um ein Mindestmaß an gerechter Teilhabe. Denn im Ergebnis mündet das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Märkte bei gleichzeitigem Abbau von sozialen Mindestsicherungen in einer gesamtgesellschaftlichen Katastrophe. Die Löhne und Renten reichen vorne und hinten nicht aus, um die Mieten zu bezahlen. Hinzu kommen Schulden, die aus Krankheit, Scheidung oder sogar der Studienzeit resultieren oder eine Folge von Börsenkrächen sind.
Was dann für viele Amerikaner bleibt, ist der Umzug in den Wohnwagen oder das Mobile Home, das Leben auf den Landstraßen, die periodische Wanderung von Arbeitgeber zu Arbeitgeber. Insbesondere Amazon oder Wal-Mart profitieren von diesen mobilen Alten, die nicht arbeiten, weil es ihnen Freude bereitet, wie die Werbung gerne suggeriert, sondern weil sie es müssen, um ihr tägliches Brot - und nicht wirklich mehr - bezahlen zu können. Manchen schmerzen Füße, Muskeln und Knochen dermaßen, dass die Arbeitgeber - in einem Anfall sozialer Wärme und Mitgefühls - Automaten mit Schmerzmitteln aufstellen, damit sie auf Dauer arbeitsfähig bleiben.
Man kann das als Besinnung auf uramerikanische Werte von Unabhängigkeit und Freiheit preisen, als echte Tugenden der frontier, jener stets in den Westen wandernden Grenze, die angeblich Amerika groß gemacht hat. Man kann aber auch ehrlich sagen, dass es sich um Ausbeutung und Unterdrückung handelt. Mehr noch: Man kann auch von Verrat sprechen, Verrat durch jene Eliten, die seit den achtziger Jahren unter Ronald Reagan, Bill Clinton, den beiden Bush-Präsidenten und Barack Obama den Gesellschaftsvertrag mit der Masse der Amerikaner zugunsten einer totalitären Marktideologie aufgekündigt haben.
Da hilft es wenig, wenn Ökonomen abstrakt die Leistungsfähigkeit der Märkte als soziale Wohltat darstellen, wenn in Wirklichkeit das Gros der Bevölkerung abgehängt wird, nicht weil es ungebildet, unfähig oder unflexibel wäre, sondern weil man jeden Gestaltungswillen vermissen lässt. Die persönliche Leistung hat im Kontext von Globalisierung und neoliberalem Laissez-faire an Wert dramatisch eingebüßt, und die Politik hat darauf reagiert, indem sie möglichst alle Macht an "die Märkte" und die sie propagierenden Experten abgegeben hat. Das aber war eine feige Flucht, ein Versagen, das bei den Betroffenen, wen wundert es, zu einer unbestimmten, aber sehr konkreten und durchaus berechtigten Wut geführt hat, die man gerne ebenso vage wie nichtssagend als "Populismus" bezeichnet.
Die Welt dieser Betroffenen schildert Jessica Bruder, Professorin an der Columbia Journalism School, ruhig, ohne Schaum vor dem Mund und aus nächster Nähe. Für viele Monate hat sie unter den Workcampern, den modernen Arbeitsnomaden der Vereinigten Staten, gelebt, deren Erfahrungen geteilt und deren Leben unter die Lupe genommen. Ihre Schilderungen bleiben durchweg sachlich und mitfühlend, ihre Tonlage ist weder polit-aktivistisch noch soziologisch-analytisch, sondern vielmehr still beschreibend, nur mitunter kommentierend.
Bruder vermeidet es, die Lebensweise der Arbeitsnomaden - Angehörige der unteren weißen Mittelklasse jenseits Mitte fünfzig - zu denunzieren. Gelegentlich romantisiert sie das Leben auf der Straße, die Solidarität unter den derart Marginalisierten, sogar ein wenig. Unaufdringlich weist sie auf ältere Traditionen hin, an welche die Workcamper anschließen, etwa die Arkies und Okies der Großen Depression oder die Planwagensiedler des neunzehnten Jahrhunderts. Sie schildert Momente des Glücks und der Zufriedenheit, aber auch persönliche Katastrophen und Rückschläge.
Bruders gesellschaftliche und politische Schlussfolgerungen sind zurückhaltend. Stellenweise wirkt das fast ein wenig hilflos, was nicht zuletzt an einem Mangel an tiefgreifender gesellschaftlicher und ökonomischer Analyse liegt. Dennoch hat sie ein wichtiges Buch geschrieben, denn wer ihrer Darstellung folgt, versteht, woher die Wut und der Zorn kommen, die zur Wahl Donald Trumps beigetragen haben. Wenn nämlich Demokraten und Liberale in den hier geschilderten working poor nur noch Abgehängte sehen, die politisch falsche Entscheidungen treffen, weil sie "populistisch" wählen, tragen sie maßgeblich dazu bei, den demokratischen Staat und die Marktwirtschaft in der Masse der Gesellschaft aktiv zu delegitimieren.
MICHAEL HOCHGESCHWENDER
Jessica Bruder: "Nomaden der Arbeit". Überleben in den USA im 21. Jahrhundert.
Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner. Karl Blessing Verlag, München 2019. 384 S., geb.
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