Was passiert, wenn man durch einen gesundheitlichen Einbruch auf einen Schlag aus dem prallen Leben gerissen wird? Kann das Erzählen von Geschichten zur Rettung beitragen? Und kann Komik heilen?
Nachdem der Erzähler Joachim Meyerhoff aus so unterschiedlichen Lebenswelten berichtet hat wie einem Schüleraustausch in Laramie, Amerika, dem Aufwachsen auf einem Psychiatriegelände, der Schauspielschule und den liebesverwirrten Jahren in der Provinz, gerät der inzwischen Fünfzigjährige in ein Drama unerwarteter Art.
Er wird als Notfall auf eine Intensivstation eingeliefert. Er, der sich immer durch körperliche Verausgabung zum Glühen brachte, die »blonde Bombe«, für die Selbstdetonationen ein Lebenselixier waren, liegt jählings an Apparaturen angeschlossen in einem Krankenhausbett in der Wiener Peripherie. Doch so existenziell die Situation auch sein mag, sie ist zugleich auch voller absurder Begebenheiten und Begegnungen.
Der Krankenhausaufenthalt wird zu einer Zeit voller Geschichten und zu einer Zeit mit den Menschen, die dem Erzähler am nächsten stehen. Er begegnet außerdem so bedauernswerten wie gewöhnungsbedürftigen Mitpatienten, einer beeindruckenden Neurologin und sogar wilden Hamstern. Als er das Krankenhaus wieder verlassen kann, ist nichts mehr, wie es einmal war. Joachim Meyerhoff zieht alle literarischen Register und erzählt mit unvergleichlicher Tragikomik gegen die Unwägbarkeiten der Existenz an.
Besprechung vom 22.09.2020
Klamauk als Medizin?
Joachim Meyerhoffs Roman "Hamster im hinteren Stromgebiet" verarbeitet einen Schlag des Schicksals
Bald zehn Jahre dauert die Erfolgsgeschichte von Joachim Meyerhoffs autobiographischem Zyklus "Alle Toten fliegen hoch" schon an, gut 2,3 Millionen Exemplare hat der Verlag Kiepenheuer & Witsch bislang verkauft, mit "Hamster im hinteren Stromgebiet" erscheint nun der fünfte Roman. Seinen Ursprung hat das Projekt in Theaterabenden, auf denen Meyerhoff aus seinem Leben erzählte - von seinem Austauschjahr in den Vereinigten Staaten, aber auch von Tragischem wie dem frühen Unfalltod eines seiner Brüder.
Dass die Romane - bei Publikum und Kritik gleichermaßen - auf Begeisterung stoßen, mag daran liegen, dass es Meyerhoff gelingt, maximal viel Energie von der Bühne in die Bücher mit hinüberzunehmen. Man kann sich während der Lektüre des Eindrucks kaum erwehren, Meyerhoff säße neben einem und haute eine Schote nach der anderen raus. Und müsste dabei selbst immer wieder auflachen über den ganzen Unsinn, den so ein Leben ausmacht.
Unvergessen etwa, wie der baumlange Meyerhoff als Schauspielschüler bei seinen ebenso mondänen wie kapriziösen Münchener Großeltern lebt und von ihnen, die schon morgens ihr hochprozentiges Mundwasser nach dem Gurgeln schlucken, regelmäßig unter den Tisch getrunken wird, so dass er abends schließlich promilleselig im Treppenlifter in sein rosafarbenes Zimmer transportiert werden muss. Ob die Anekdote nur zur Hälfte stimmt? Ob sie bei jedem Wiedererzählen eine Nuance schräger geworden ist? Vollkommen unerheblich.
Was aber passiert mit dieser erzählerischen Leichtigkeit und der Lust an der Ausschmückung, wenn nicht alte Jugenderinnerungen hervorgeholt werden, sondern wenn das Erzählte nur wenige Monate zurückliegt? Und mehr noch: Wenn das Existentielle nicht nur immer einmal wieder hereinlugt, sondern wenn es alles überstrahlt, wenn plötzlich das eigene Leben auf dem Spiel steht?
In "Hamster im hinteren Stromgebiet" erzählt Meyerhoff von einem Schlaganfall, der ihn vier Monate nach seinem 51. Geburtstag ereilt, als er gerade mit der älteren seiner beiden Töchter an einer Hausarbeit über Bipolarität sitzt. Ihm wird übel, der Raum verliert die Kontur und verschwimmt. "Mein linkes Bein fing sanft zu kribbeln an, auf dem Schienbein eine Ameisenstraße, dann stärker und verlor seine für mich eindeutige Position im Raum. Mit einer prickelnden Entladung wich schlagartig alle Kraft aus dem linken Arm."
Meyerhoff weiß sofort, was ihm widerfährt. Und er weiß auch: "Zeit ist Hirn" - je schneller er im Krankenhaus ist, umso größer die Chance, dass bleibende Schäden verhindert werden können. Umso quälender - und absurder - erscheint das ewige Verharren des Krankenwagens, in den Meyerhoff, begleitet von einer Tochter, von zwei schwitzenden Sanitätern das Treppenhaus hinuntergewuchtet worden ist. Es fehlt die Anweisung, welches Krankenhaus aufnahmebereit ist.
An dieser Stelle würde man auf Übertreibung hoffen. Zu befürchten steht allerdings, dass es sich hierbei genauso wenig um eine handelt wie bei der Beschreibung der lazarettgleichen Wiener Intensivstation, auf der Meyerhoff irgendwann dann doch ankommt und auf der die Patienten, Männer wie Frauen, nur durch Vorhänge getrennt nebeneinanderliegen, so dass jede Regung, jedes Stöhnen, jedes intime Gespräche der anderen zu vernehmen ist. Aus literarischer Sicht ist dieser Raum ideal: Indem Meyerhoff die Verzweiflung der anderen beschreibt, muss er die eigene nicht artikulieren, sondern kann sich in ihr spiegeln. Seine jüngere Tochter ist es, die das Ungeheure dann doch ausspricht: "Stirbst du?"
Dass die Leichtigkeit angesichts der eigenen Versehrtheit zunächst einmal reichlich Einbußen hinnehmen muss, braucht kaum eigens erwähnt zu werden. Bemerkenswert und auch berührend - ohne auf banale Weise betroffen zu machen - aber ist die Art und Weise, wie Meyerhoff von den Tagen im Krankenhaus, zunächst auf der lazarettähnlichen Intensivstation, schließlich, weil eine Krankenschwester ihn erkennt, auch als Nichtprivatpatient in einem Einzelzimmer, erzählt. Das Erzählen, die Sprache - um deren Verlust er als Schauspieler vielleicht noch mehr als andere fürchten muss - wird mehr denn je zum lebensrettenden Faktor.
Natürlich ist vor allem der Roman selbst eine solche Selbstversicherung. Zunächst einmal aber, um die eigenen Fähigkeiten, das Sprach- wie das Erinnerungsvermögen, zu überprüfen, memoriert Meyerhoff Theatertexte. Und weil er befürchtet, im Schlaf könne er einen zweiten Schlaganfall erleiden, verbringt er die Krankenhausnächte, indem er sich Geschichten von zurückliegenden Reisen in Erinnerung ruft. Und so begibt er sich in Gedanken mit seinem Bruder auf Wandertour nach Norwegen und mit der neuen Freundin, für die er Frau und zwei Töchter verlassen hat, in den Senegal, wo er von asthmatischen Anfällen heimgesucht wird und die Nächte ausgestreckt auf dem Hotelboden verbringt, um möglichst nah an der Klimaanlage zu sein.
Kommen in diesen nächtlichen Reisen einerseits die eigenen nicht nur physischen Schwächen zur Sprache, so bricht sich in ihnen andererseits auch zusehends die Komik wieder Bahn und greift über auf den tristen Krankenhausalltag. Spätestens in der Schilderung eines vollkommen missratenen Patchworkfamilien-Aufenthalts auf Mallorca oder einer vermutlich irrtümlich von zwei robusten Pflegern erteilten Dusche - inklusive wilder Einschäumung der Genitalien und Modellierung alberner Schaummützen - oder den Beobachtungen des eigentlich bemitleidenswerten Treibens im Speisesaal für Schlaganfallpatienten scheint Meyerhoff sich in den heilenden Klamauk hereingeredet zu haben. "Einem Typ fiel die Brille in die von Thomas Bernhard unsterblich gerühmte Frittatensuppe und er setzte sie sich samt Pfannkuchenfäden zurück auf die Nase. Saß stoisch da, als ob nichts wäre, und vom Brillenbügel baumelte die Suppeneinlage."
Den Begriff "Kontrastbetonung", so Meyerhoff, habe er von seinem Onkel, einem Biologen, gelernt. Als erzählerisches Mittel beherrscht er diese brillant. Wo es zu schmerzhaft wird, wo etwa das Trainieren der durch den Schlaganfall verlorenen motorischen Fähigkeiten zäh und aufreibend wird, zieht er sich selbst durch Witz wieder hinaus. Ein "Schlupfloch aus der eigenen Hilflosigkeit" nennt Meyerhoff die Komik.
Als er - trotz der widrigen Umstände beinahe freudig - das zwischen dem Bauchfett des Fahrers eingeklemmte Lenkrad des Krankenwagens entdeckt - "Steuer im Speckmantel sozusagen" -, stößt man auf ein weiteres poetologisches Prinzip. Schon immer, so Meyerhoff, sei er auf der Suche nach solchen Motiven gewesen: "Bäume, die angenagelte Schilder verschlangen oder mit ihrer Rinde schmiedeeiserne Zäune umwuchsen". Als Zwanzigjähriger wiederum habe er leidenschaftlich alle möglichen Dinge, vorzugsweise Organisches, in Harz gegossen: "Neun kleine Wiener Würstchen, neun überfahrene Frösche oder neun vom Metzger bestellte Kuhaugen."
Eben dies macht auch der Erzähler Meyerhoff: Lebendiges in Harz gießen und konservieren. Diese Gießharz-Methode mag nun allerdings auch der Grund für die schwächeren Passagen des Romans sein. Denn eingießen kann man ja erst einmal jede Menge, erst mit der Zeit aber erkennt man, welche Exponate wirklich ausstellens- und bewahrenswert und welche allzu ungefilterte Selbstbeschreibungen oder -entwürfe à la "Ich bin ja ein Mensch, der . . ." sind. Als Meyerhoff einmal auf dem Krankenhausflur auf seine Töchter wartet, wirft er sich jedes Mal in Pose, wenn sich die Fahrstuhltür öffnet, um die Töchter mit seiner guten Verfassung zu beeindrucken. Schließlich gibt er erschöpft auf, denn alles "Posingpulver" ist verschossen. Eine Prise weniger dieses Pulvers hätte dem Roman ganz sicher nicht geschadet.
Und während man über weit zurückliegenden Humbug unbeschwerter zu lachen gewillt ist, mag man sich bei der Lektüre von "Hamster im hinteren Stromgebiet" zwischenzeitlich durchaus stirnrunzelnd fragen, wie lustig es beispielsweise eine Exfrau findet, wenn der abtrünnige Vater zur Kompensation seines schlechten Gewissens ohne Absprache ein Kaninchen samt Ausstattung für eine der Töchter in die Wohnung schleppt, in der er selbst nicht mehr wohnt. Und das Ganze dann noch ausschlachtet. Die Episode, nicht das Tier. Aber das bleibt freilich ein voll und ganz außerliterarisches Kriterium.
WIEBKE POROMBKA
Joachim Meyerhoff: "Hamster im hinteren Stromgebiet". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 320 S., geb.
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