»Sie werden aus diesen vierzig Jahre alten Notizen mehr über Amerikas Zukunft erfahren als aus der Zeitung von morgen.« Esquire
Ein feinsinniges Porträt uramerikanischer Landschaften, in dem sich bereits die Bruchlinien andeuten, an denen entlang sich das heutige Amerika spaltet: Im Sommer 1970 unternahm Joan Didion gemeinsam mit ihrem Mann John Gregory Dunne eine Reise in die amerikanischen Südstaaten, mit der vagen Idee, darüber zu schreiben. Das Stück ist nie erschienen, aber ihre Notizen blieben erhalten und werden nun erstmals veröffentlicht. Wie in ihren hochgelobten Essays und Reportagen zeigt sich auch in diesem ursprünglichen Material die Beobachtungsgabe, der Scharfsinn und das Gespür für beiläufige und doch vielsagende Szenen sowie Didions präzise, unwiderstehlich rhythmisierte Sprache, die ihre Texte so einzigartig macht. Ergänzt werden Didions Reisenotizen um bisher ebenfalls unveröffentlichte Aufzeichnungen, die 1976 entstanden, als sie in San Francisco im Auftrag des Rolling Stone den Prozess beobachtete, der der Millionenerbin Patty Hearst wegen Bankraubs gemacht wurde.
»Ein Buch für ihre vielen hingebungsvollen Leser und für jeden, der sich für den geheimnisvollen Prozess des Schreibens interessiert.« Booklist
Besprechung vom 10.03.2018
Der Trotz des amerikanischen Südens
Sie kannte die Ost- und die Westküste, doch als Joan Didion 1970 in die Südstaaten reiste, zeigte sich ihr eigenes Land von einer neuen, fremden Seite.
Von Jürgen Kaube
Im Jahr 1966 hat Joan Didion einen kleinen Essay, "Vom Sinn, ein Notizbuch zu besitzen", geschrieben. Damals war die Reporterin zweiunddreißig und kurz davor, bekannt zu werden: für ihre physiognomische, stets auf der Lauer liegende Urteilskraft - "Schriftsteller nutzen immer jemand aus" -, ihren szenischen, fast filmischen Stil, ihre Fähigkeit, nebensächlich erscheinende Beobachtungen in "Genau so fühlt es sich an"-Sätzen festzuhalten und so zu schreiben, dass selbst Leser die Vereinigten Staaten wiedererkannten, die noch nie dort waren oder mindestens nicht in den Städten, die Didion bereiste.
Didion schrieb über das Elend kalifornischer Hippies, über Rettungsschwimmer in Malibu und wie es ist, in New York jung zu sein, darüber, was die Insassen von Hollywood abends so machen, über Joan Baez und ihre Manager, über die amerikanische Faszination für Howard Hughes und ihre eigene für John Wayne. Später kamen Gerichtsreportagen sowie große Essays über Washington, sein Personal und seine Affären, von Clinton bis Bush junior, hinzu. Wer Flugangst hat oder ungern in Motels nächtigt, kann sich große Teile Amerikas seit fünfzig Jahren von Joan Didion geben lassen.
Der Aufsatz über ihre Notizbücher beginnt mit einer Frau, die in schmutzigem seidenen Morgenrock an einer Hotelbar in Wilmington einen Satz über ihre bevorstehende Scheidung verliert. Didion bearbeitet den Nachhall solcher Sätze, zieht den Faden ganzer Geschichte aus solchen Bildern. Das jetzt auf Deutsch vorliegende Notizbuch "Süden und Westen", das vor allem Eindrücke von einer Reise enthält, die 1970 in New Orleans begann, setzt mit einer Frau ein, die mitten am Tag am Steuer ihres Wagens stirbt. Didion folgt einer Augenzeugin des Todesfalls, die sich in ein Café setzt und zur Kellnerin sagt: "Wer hat Schuld?" Niemand, so die Kellnerin, und dass niemand etwas dafür kann, wiederholt auch die Augenzeugin, bis Didion merkt, dass die beiden gar nicht über den Tod, sondern über das Wetter sprechen. "Alle Menschen auf der Straße", heißt es über New Orleans, "bewegen sich, als wären sie Teil eines gefährlichen Amalgams, und zwischen den Lebenden und den Toten scheint es nur einen technischen Unterschied zu geben."
Es ist diese Art von reflektiertem Impressionismus, die Didion und ihr schreibendes Ich berühmt gemacht hat. Subjektivität und das Anekdotische kontrolliert sie durch Schärfe, Gedanken und Misstrauen gegenüber Schablonen. Wie viel sich von dem, wovon sie in ihren Reportagen berichtet, wirklich zugetragen hat, lässt sie offen. Sie besitze keinen Instinkt für Realität und könne nur schwer zwischen dem unterscheiden, was passiert sei, und dem, was hätte passiert sein können, schreibt sie schon 1966. "So war das alles überhaupt nicht", entgegne ihre Familie ständig, wenn sie ihre Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse lese.
Insofern können wir uns von Google bestätigen lassen, dass es Stan Torgerson wirklich gegeben hat, der in Mississippi einen Radiosender für Afroamerikaner besaß und Didion das Leben im Süden erklärte. Aber die Anekdote über den Mann mit rosa T-Shirt und Golfkappe, der nach dem Gespräch mitten auf der Hauptstraße von Meridian mit einer Schrotflinte Tauben von den Dächern schießt, wird von der Frage nicht getroffen, ob Didion ihn erfunden hat. Sie hätte ihn sonst erfinden müssen, weil es an dieser Stelle kaum ein besseres Bild dafür gab, was mit "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" nach südstaatlicher Deutung wirklich gemeint ist.
Es war für Didion, die West- und Ostküstenbewohnerin, eine fremde Welt, die sie damals bereiste: Country Clubs, Plantagen, Kosmetiksalons, Reptilienfarmen. "Hey, guck mal, da ist eine im Bikini", ruft man ihr am Pool hinterher. Mitunter erwischt sie sich beim Gedanken, wo auf der Landkarte die nächste Stadt mit einem Flughafen sei, der sie in ihre Zivilisation zurückbringen könnte. Umgekehrt verstehen die meisten Einwohner der Südstaaten, die sie trifft, kein bisschen, wie man als junge Frau denn auf die Idee kommen kann, irgendwohin zu reisen, nur um sich anzuschauen, wie es da ist.
Fremd also schon für Didion 1970 - um wie viel fremder ist diese Welt, die sich nur für sich selbst interessiert, für uns. Es ist eine fatalistische Welt, die hier geschildert wird, in der noch die Flucht aus ihr fatalistische Züge annimmt: "Ich werde heiraten", sagt ein Mädchen, das abhauen will, "egal, wen." Es ist eine kolonialistische Gesellschaft, für die Vergangenheit im strikten Sinne gar nicht existiert und die sechziger Jahre weiter zurückliegen als der Bürgerkrieg. Alles stockt: "Ich glaube, ich habe überhaupt nirgendwo im Süden Wasser gesehen, das den Eindruck erweckte zu fließen." In dieser Welt dreht sich viel ums Essen, um den Rassenunterschied - auch Didion redet, wenn wir nichts überlesen haben, kein einziges Mal länger mit einem Farbigen -, um Sport und um die Familie.
In dieser Welt ist nicht nur, wie damals für Didion, George Wallace, der rassistische Gouverneur von Alabama und Präsidentschaftskandidat der Demokraten, "ein vollkommen erklärbares Phänomen". Die Präsidentschaft von Donald Trump ist es auch, wenn man hinzunimmt, dass die Massenmedien inzwischen aus den konservativen Einstellungen die gehässigen hervorgetrieben haben und blinden Traditionsglauben durch die Bewunderung von Krassheiten ersetzen. Das war damals, wenn man den Notizen Didions folgt, noch nicht so. Aber schon damals meinte sie im unzugänglichen Trotz des Südens das Zentrum Amerikas zu erkennen.
Ein Essay oder eine Reportage ist aus den Notizen nicht geworden. Woran das lag, bleibt unerläutert, an den Materialien kaum. Vielleicht gelang es der Autorin nicht, das "und" zwischen dem Süden, in dem sie war, und dem Westen, aus dem sie kam, zu artikulieren. Wer den Band mit ganzem Gewinn lesen möchte, sollte jedenfalls "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben" oder einen anderen Essayband heranziehen, um zu sehen, was Didion aus ihren Notizen im Allgemeinen macht. Einer der besten Sätze des Bandes könnte dafür eine Selbstbeschreibung sein. Es sagt ihn aber eine junge Frau aus Oxford, Mississippi, als die Rede auf Drogen kommt. Sie habe noch nie welche genommen: "Mein Bewusstsein ist erweitert genug."
Joan Didion: "Süden und Westen". Notizen.
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel. Ullstein Verlag, Berlin 2018. 160 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.